Der Sommer der Frauen
mit ihrer Mutter schon gar nicht. Lolly Weller war höchstens eine Handvoll Male ein Lächeln über die Lippen gekommen, seit sie vor fünfzehn Jahren auf einen Schlag zur Witwe wurde, ihre Schwester verlor und ganz allein drei zankende, traumatisierte Mädchen großziehen musste. Lolly hatte zu Herzensangelegenheiten nichts zu sagen. Sie hatte bis zu dem Unfall eine erfüllte Ehe mit Kats Vater geführt. Sie war glücklich gewesen, na ja, glücklich
er
, jedenfalls. Aber dann war sie still geworden, hatte die Mädchen ihre Fragen unter sich ausmachen lassen. Nur, dass sie sich mit ihren Fragen nie aneinander gewandt hatten.
Und seltsamerweise war Kat geblieben. Hier, in Boothbay Harbor, im Three Captains’ Inn, unfähig, auch nur ans Weggehen zu denken. Einerseits, weil ihre Mutter sie brauchte. Und dann, weil Kat Angst hatte, dass sie, wenn sie jemals wegging, vielleicht nie zurückkommen würde. Außerdem liebte Kat ihr Leben hier. Sie liebte es zwar nicht, im Three Captains’ Inn zu putzen, aber sie liebte es, für die Gäste zu backen, und mit beidem zusammen verdiente sie sich ihr schönes Dachzimmer, für das sie während der Sommersaison locker 200 Dollar pro Nacht hätten nehmen können – nicht, dass ihre Mutter jemals Miete von ihr verlangt hätte. Und wenn sie noch ein paar Monate sparte, vielleicht noch ein halbes Jahr, hatte sie genug zusammen, um endlich ein Ladengeschäft zu mieten und die notwendige Ausstattung zu kaufen, und der Eröffnung von
Kats Kuchen & Konfekt
stünde nichts mehr im Wege. Und wenn es nur ein winziger Laden in einer Seitenstraße würde, es wäre trotzdem ihr eigener. Die Ersparnisse stammten aus dem Hochzeitstortengeschäft und dem Verdienst mit ihren Stammkunden in der Stadt – Feinkostläden und Cafés, über die sie ihre Muffins und Scones vertrieb. Außerdem war sie Stammbäckerin für sämtliche Geburtstagskuchen der Stadt. Erst letzten Sonntag hatte sie vormittags den Anruf einer hysterischen Mutter erhalten, die ihr 100 Dollar dafür bezahlte, dass sie bis vier Uhr nachmittags einen Mausi-Geburtstagskuchen für ihre Tochter buk. Einhundert Dollar für einen Kuchen! Kat hatte nicht nur den Kuchen gebacken, sondern bei der Gelegenheit auch fünf Folgeaufträge eingeheimst.
«Kat, wenn du ihn sausen lässt, heiratet er irgendwann eine andere», sagte Lizzie, und der Diamant ihres Verlobungsrings funkelte im spätnachmittäglichen Sonnenlicht. «Und wenn er erst mal eine Frau hat, dann ist es mit der Freundschaft, die du all die Jahre so sorgsam behütet hast, in null Komma nix aus und vorbei. Und dann passiert genau das, wovor du Angst hast. Du wirst ihn verlieren. Du kannst also genauso gut endlich selbst Nägel mit Köpfen machen.»
«Lizzie, ich …» Kat warf die Hände in die Luft. Wenn sie doch nur wüsste, was sie zurückhielt. War es Angst? War ihr Interesse an Oliver in Wirklichkeit doch nicht so groß? Wieso wusste sie nicht, was sie wirklich fühlte? «Außerdem bin ich ja dran. Wir sind doch zusammen.»
Lizzie schnaubte. «Ihr seid seit einem halben Jahr zusammen, und er hat dich immer noch nicht nackt gesehen. Das ist nicht Zusammensein, Kat. Das ist
Freundschaft
.» Lizzie stand auf und warf sich die Umhängetasche über die Schulter. «Ich will doch nur, dass du so glücklich bist wie ich, mein Honigküchlein. Krieg ich noch eins für unterwegs?»
Kat lachte, bestäubte noch ein Törtchen und gab Lizzie einen Abschiedskuss. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie nur noch zwanzig Minuten Zeit hatte, bis Isabel und June kamen. Und bis zur großen Ankündigung ihrer Mutter.
Kat holte tief Luft und wappnete sich mit dem Duft ihrer Törtchen, weil der sie noch nie im Stich gelassen hatte. Auch wenn sie gar nicht wusste, wogegen sie sich eigentlich wappnete. Und das konnte Kat überhaupt nicht ausstehen.
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4. Isabel
I sabel saß im Aufenthaltsraum des Three Captains’ Inn und starrte das düstere Porträt ihres Ururgroßvaters und seiner zwei Brüder an, den Kapitänen zur See, die im neunzehnten Jahrhundert die Pension erbaut hatten. Sie war vor zehn Minuten angekommen. Tante Lolly war in der Küche damit beschäftigt gewesen, dampfende Farfalle aus dem Sieb in eine Servierschüssel umzuschütten. Lolly hatte zur Begrüßung Isabels Unterarm berührt, was für die Verhältnisse ihrer Tante fast einer Umarmung gleichkam. Isabels Angebot, beim Tischdecken zu helfen, hatte sie abgelehnt und sie gebeten, sich wie zu Hause zu
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