Der Sommer der Frauen
Tür hinter sich zusperren konnte, um kurz Luft zu holen. Das Badezimmer im Erdgeschoss war besetzt, also ging Isabel die Treppe hinauf. Sie wollte schon in das winzige Gäste- WC im ersten Stock fliehen, als sie sah, dass die Tür zu einem kleinen Zimmerchen leicht offen stand. Alleinekammer hatten sie diesen Raum früher immer genannt. Isabel öffnete die Tür. Die Alleinekammer hatte sich nicht verändert. Ein altes Zweiersofa, ein verblichener, ausgefranster Flechtteppich, ein Beistelltisch mit einer alten Lampe und ein kleines Regal voller Bücher und Zeitschriften. Das Bild von sich selbst als Sechzehnjährige blitzte vor Isabels innerem Auge auf, wie sie sich damals an dem Silvesterabend nach dem Streit mit ihrer Mutter hierher geflüchtet und die nicht absperrbare Tür mit dem Staubsauger verbarrikadiert hatte.
Die Alleinekammer. Wo sie während der wenigen Jahre, die sie im Three Captains’ Inn lebte, so viel Zeit verbracht hatte. Als die drei Mädchen auf einmal gezwungen waren, sich in der Pension ein einziges großes Zimmer zu teilen, hatte Lolly den Hauswirtschaftsraum im ersten Stock freigeräumt, ihn zur «Alleinekammer» ernannt und ein Schild an die Tür gehängt, das man umdrehen konnte: BESETZT oder FREI . Wenn eines der Mädchen etwas Raum für sich brauchte, einen Ort der Stille in diesem ewig wuselnden Haus, verzog es sich in die Alleinekammer.
Isabel betrachtete in dem Spiegel an der Wand ihr Gesicht. Sie war erstaunt, dass es möglich war, auszusehen wie immer, obwohl eben ihr ganzes Leben zusammengebrochen war – schulterlanges hellbraunes, sorgsam gesträhntes Haar, dezentes Make-up, das übliche, unaufdringlich elegante Outfit samt hohen Absätzen. Nur die braunen Augen sahen anders aus … todtraurig traf es wohl am besten. Wenigstens waren sie nicht mehr so rot wie noch vorhin im Auto, als sie einen letzten Blick in den Rückspiegel geworfen und sich mit einem tiefen Atemzug dafür gewappnet hatte, aus dem Wagen zu steigen und die Stufen zum Three Captains’ Inn hinaufzusteigen.
Isabel atmete tief durch und ging wieder nach unten. June war inzwischen aus der Stadt zurück und saß bei Kat im Aufenthaltsraum. Sie starrte in ein Glas Eistee und war offensichtlich völlig in Gedanken. Sie trug ihr gewohntes Outfit aus Jeans, weißer Hemdbluse und weinroten Clogs, eine offensichtlich von Charlie selbstgebastelte Brosche aus einem Puzzleteil war der einzige Schmuck. Sie zog sich einen Buntstift aus dem lockeren Knoten im Nacken und drehte die wilde dunkelbraune Mähne weiter oben wieder zusammen.
«Hallo, June», sagte Isabel. Sie war sich nicht sicher, ob ihre Schwester sie überhaupt bemerkt hatte.
June setzte ihr Glas ab und stand abrupt auf. «Isabel! Ich habe dich gar nicht gesehen. Entschuldige.» Sie umarmte Isabel flüchtig und setzte sich wieder hin. «Na, ist Edward oben noch in ein wichtiges Gespräch über die Red Sox vertieft?», fragte June und lächelte zaghaft.
Isabel griff nach ihrem Eistee. «Er konnte nicht mitkommen.»
Lolly, die sich schon seit einer halben Stunde nicht mehr hatte blicken lassen, erschien in der Tür zum Aufenthaltsraum. «Das Essen ist fertig.»
Gerettet
, dachte Isabel. Erst mal, jedenfalls.
«Du siehst so hübsch aus, Tante Lolly!», sagte June, und sie hatte recht. Lolly hatte das übliche Habit aus Tanktop, Glockenrock und Flip-Flops gegen ein mintgrünes Baumwollkleid und hellgraue Ballerinas getauscht. Statt des vertrauten geflochtenen Zopfes waren die graumelierten blonden Haare auf dem Hinterkopf zu einem ordentlichen Knoten hochgesteckt. Außerdem trug sie Lippenstift. Lolly trug nie Lippenstift.
«Wow! Gibt es was zu feiern?», fragte Kat, als sie Lolly durch den Eingangsbereich in die großzügige Landhausküche folgten, wo Lolly, die sämtliche Angebote, ihr zu helfen, ausgeschlagen hatte, inzwischen den Tisch gedeckt hatte. Dort warteten eine große Schüssel gemischter Salat, Pasta Primavera mit Pesto, eine Käseplatte, ein herrlicher Laib knuspriges Weißbrot, Weißwein und der Wildblumenstrauß, den Isabel mitgebracht hatte.
«Oh, ich habe den Parmesan vergessen», sagte Lolly und ging zum Kühlschrank, als hätte sie Kats Frage überhört. Dann hatte sie das Dressing vergessen. Und als Nächstes die Butter. Mindestens zehnmal stand Lolly wieder von ihrem Stuhl auf.
Was war
denn nun die geheimnisvolle Ankündigung? Es ging jedenfalls eindeutig um etwas, das sie selbst gehörig erschütterte, so fahrig, wie sie wirkte.
Als
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