Der Sommer der Frauen
wie
Krebs
oder
Chemotherapie
völlig vergaß. Bis eins davon durchs offene Fenster aus dem Garten direkt zu ihr in die Küche schallte. Zwei Paare, Hausgäste, saßen bei einer Weißweinschorle zusammen – von fünf bis sechs gab es immer Lollys Gratiscocktailstunde – und unterhielten sich. «Meine Schwester hatte Eierstockkrebs», sagte eine der Frauen beiläufig. «Sie hat dagegen gekämpft, solange sie konnte, aber vor zwei Jahren ist sie gestorben.» Und dann eine zweite Stimme: «Meine Mutter auch. Brustkrebs.» Dann: «Ach, das tut mir leid!» Und dann Tränen und eine Männerstimme: «Komm her, Schatz!»
Kat hatte ganz still dagestanden, die Augen geschlossen, mit bebenden Lippen und zitternden Händen. «Bitte, nimm mir nicht meine Mutter!», hatte sie geflüstert und die Hände zum Gebet gefaltet. Und dann war ihre Mutter in die Küche gekommen, um die Käseplatte aufzufüllen, hatte den strahlend blauen Himmel kommentiert, und als die Tür hinter Lolly wieder zugeschwungen war, war Kat in Tränen ausgebrochen. Sie war vom Fenster weg hinüber in die uneinsehbare Ecke gegangen, hatte sich zu Boden gleiten lassen und in ihre Unterarme geweint. Sie durfte ihre Mutter nicht verlieren.
Sie war genau dort sitzen geblieben, bis eine plötzliche Erinnerung sie zum Lachen brachte: Sie und ihre Eltern lagen ganz hinten im Garten auf der Wiese im Gras, Kat in der Mitte, und zeigten sich Wolkenbilder. Kat hatte ein Rentier. Ihre Mutter ein Auto. Ihr Vater hatte einen Truthahn und brachte Lolly damit so zum Lachen, dass sie sich den Bauch halten musste.
Dann war die Erinnerung wieder verblasst, und Kat war aufgestanden, ernüchtert und traurig und gleichzeitig dankbar, weil Oliver jeden Moment vor der Tür stehen würde, um sie «dahin zu bringen, wo sie jetzt sein musste». Sie musste raus aus der Pension, weg von hier. Er war gekommen, pünktlich wie immer, umwerfend gutaussehend, auch wie immer, groß und muskulös in ausgewaschenen Jeans und einem dunkelgrünen T-Shirt, die dichten, gewellten Haare windzerzaust.
Der Wagen bog in eine Seitenstraße ab, die Kat nicht kannte. Sie fasste in die Handtasche, zog ihr kleines Notizbuch und einen Stift heraus und schrieb
Wo fahren wir hin?
. Sie hielt ihm das Heft vor die Nase.
Er warf ihr einen Blick zu und lächelte. «Schreib für mich
Das siehst du gleich
.»
Als Kat klein war, saßen sie und Oliver oft auf den breiten Fensterbrettern ihrer Kinderzimmer, die einander direkt gegenüberlagen, durch den großen Garten getrennt, und führten Unterhaltungen, indem sie große Malblöcke hochhielten, auf die sie etwas geschrieben hatten. Ihr ganz persönliches Kurznachrichtensystem in Prämobilfunkzeiten. Manchmal hatte es Kat schon genügt, ihn dort sitzen zu sehen. Wenn sie draußen spielten und einer von beiden ins Haus gerufen wurde, konnte Kat seine Abwesenheit körperlich spüren.
Olivers Eltern hatten das Haus schon lange verkauft und lebten inzwischen in Camden. Doch manchmal, letzten Freitagabend zum Beispiel, wünschte Kat sich trotzdem, sie könnte sich einfach aufs Fensterbrett setzen und ihren großen Block hochhalten.
Ich habe solche Angst
, hätte sie darauf geschrieben, getröstet von Olivers
Ich bin immer für dich da
.
Vergangenen Freitag nach dem Film und dem anschließenden Gespräch mit ihren Cousinen war Kat aus dem Bett geschlüpft und hatte sich aus dem Haus gestohlen, um zu Oliver zu fahren. Er hatte nur einen einzigen Blick auf ihr Gesicht geworfen und gewusst, dass es um mehr ging als um den Besuch ihrer Cousinen. Sie hatte ihm von ihrer Mutter erzählt. Hatte Worte ausgesprochen, die ihr bis dahin im Hals stecken geblieben waren, Worte wie
Stadium IV . Metastasen. Chemotherapie.
Er hatte sie fest in den Arm genommen und sie einfach weinen lassen, wie schon so oft in ihrem Leben. Sie hatten ein bisschen geredet, obwohl es nichts zu sagen gab.
Ich weiß es nicht
war die einzige Antwort auf all ihre Fragen und auf seine. Sie hatten auf seinem großen Ledersofa gelegen, sie in seinen Armen, und als sie ein paar Stunden später wieder aufwachte, hatte sie ihm einen Zettel geschrieben, war zurück nach Hause gefahren, hatte sich hinauf in ihr Zimmer geschlichen, erschrocken und verstört, als sie Isabel und June im Tiefschlaf in den Klappbetten liegen sah. Sie waren wegen Lolly hier, und der ungewohnte Anblick ihrer Cousinen in ihrem Zimmer verstärkte nur die beängstigende Situation. Sobald sie sich in ihr Bett gelegt und sich die Decke bis
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