Der Sommer der Frauen
unters Kinn gezogen hatte, war die Angst wieder da und sie wünschte, sie wäre bei Oliver geblieben, seine starken Arme fest um sie geschlungen. Samstagabend nach dem Essen war sie wieder zu ihm gefahren, und sie hatten im Grunde den Freitagabend wiederholt. Genau das brauchte sie jetzt. Wenig reden. Gute Suppe. Starke Arme. Jemanden, der ihre Mutter – und sie – schon immer kannte.
Sie war gar nicht in der Stimmung für Überraschungen oder Geheimnisse. Sie hätte Oliver gerne gebeten, umzudrehen, sie einfach zu sich nach Hause zu bringen, ihr eine Badewanne einzulassen und sie die Schaumblasen oder die Decke anstarren zu lassen, aber sie brachte die Worte nicht über die Lippen und ließ sich nur müde in den Sitz sinken. Sie hatte Angst. Sie hatte eine solche Angst, wie sie sie seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr verspürt hatte. Die Krankheit ihrer Mutter war bei weitem genug für Kat. Noch eine «Überraschung» ertrug sie nicht.
«Wir sind da», sagte Oliver und blieb an einem Kiesweg stehen. Rundherum gab es nichts als Bäume. «Schau zu meiner Seite raus.»
Jetzt erst merkte Kat, wie lange sie in Gedanken gewesen war. Zu ihrer Linken lag eine Wiese, übersät mit Wildblumen. Sie entdeckte weiße und rosarote Bartnelken, ihre Lieblingsblumen. Fingerhut und Klatschmohn und quietschend gelbe Butterblumen. Sie lächelte. Der Anblick der Blumenwiese war besser als eine heiße Badewanne.
«Komm.» Er nahm ihre Hand und führte sie zu einer verwitterten Holzbank, die mitten auf der Wiese stand.
Kat atmete den Duft der Blumen ein, den Duft von Sonne und Wärme und Natur. Sie verspürte den Drang, sich wie ein Kreisel um sich selbst zu drehen, den Kopf im Nacken, und Blumen und Sonnenschein und die Natur ihre Wunder wirken zu lassen. Hier gab es nur Himmel und Erde. Unbegrenzte Möglichkeiten. Doch statt ihrem Impuls nachzugeben, legte sie sich einfach ins Gras und streckte die Arme weit über den Kopf. Sie pflückte eine Butterblume, eine der ersten Blumen, die Oliver ihr als Kind geschenkt hatte, und hielt sie sich ans Gesicht. «Hier ist es wunderschön, Oliver», sagte sie, als er sich neben sie legte. «Genau, was ich gebraucht habe. Wie in einer weichen Wolke inmitten eines strahlend blauen –»
Nur dass die weiche Wolke in einem strahlend blauen Himmel sie wieder an ihre Eltern erinnerte. An den Tag, als sie zusammen in die Wolken schauten und Rentiere und Autos entdeckten, und an das hemmungslose Gelächter ihrer Mutter bei dem Gedanken an eine Wolke in Truthahnform. Ein Geräusch, das Kat lange nicht mehr gehört hatte. Zumindest nicht so ausgelassen.
«Ich wusste, dass es dir gefällt», sagte Oliver und strich ihr zärtlich über die Wange.
Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen, und dann konnte sie nicht mehr aufhören zu weinen. Ihre Mutter starb. Ihre Mutter war, solange Kat zurückdenken konnte, immer reserviert und introvertiert gewesen. Und seit Kats Vater gestorben war, hatte Lolly sich noch mehr in sich selbst zurückgezogen, hatte zwischen sich und dem Rest der Welt eine noch dickere Mauer hochgezogen.
Kat würde nie vergessen, was sie ihrer Mutter an dem Tag, als Lolly ihr sagte, dass ihr Vater tot war, entgegengeschleudert hatte: «Ich wünschte, ich wäre auch tot! Dann wäre ich jetzt bei ihm im Himmel!» Jedes Mal, wenn Kat im Laufe der Jahre daran zurückdachte, schämte sie sich so sehr, dass ihr ganz schlecht wurde. So etwas zu sagen! Zu seiner eigenen Mutter! Zu einer Frau, die ihren Ehemann, ihre Schwester, ihren Schwager verloren hatte. Mit dreizehn war Kat ganz mitgenommen von dem, was sie damals gesagt hatte, und Oliver hatte ihr geraten, sie sollte einfach mit ihrer Mutter darüber sprechen, ihr sagen, sie hätte es nicht so gemeint. Aber als Kat schließlich all ihren Mut zusammengerafft und es getan hatte, hatte ihre Mutter sie wie immer schroff abgewimmelt.
«Kat, es gibt keinen Grund, weiter darüber nachzudenken.» Lolly hatte sich wieder ihrer Buchhaltung gewidmet und Kat mit ihrer Scham und der schweren Last allein gelassen, die sie nicht aus ihrer Brust befreien konnte.
Aber jetzt kamen Kat Bilder von Lollys sanften Momenten in den Sinn. Wie ihre Mutter sie damals in der ersten Nacht ohne Vater stundenlang im Arm gehalten hatte, während Kat schrie und tobte und schluchzte. Wie sie nahtlos die Aufgabe von Kats Vater übernommen hatte, ihr abends die Gutenachtgeschichte vorzulesen, auch wenn sie so müde war von der Arbeit in der Pension und der Verantwortung
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