Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
den Tag, an dem er sich auf offenem Feld befunden hatte und hinter den Bäumen Schüsse gellten …
Er sehnte sich verzweifelt nach dem Vergessen. Nur für eine kleine Weile.
Es war kurz nach Neujahr. In Reston hingen immer noch Girlanden über den Türen, und der Schnee in der Hauptstraße war mit Fußabdrücken übersät. Byrne war ins Dorf gefahren, weil der sonst stets anwesende und treue Dobbs die Feiertage bei seiner Schwester in Manchester verbrachte und Byrne die undankbare Aufgabe überlassen hatte, selbst einzukaufen. Und das hatte ihn dazu gezwungen, sich mit den Leuten im Dorf abzugeben.
Was nicht gut ausgegangen war.
Im Winter brach die Dunkelheit schon am frühen Nachmittag herein; die Leute zogen sich früh zurück. Als Byrne an jenem schicksalsschweren Abend die Straße hinaufging, lag sie stockdunkel und verlassen da.
Er war ins Dorf gegangen, um das Klafter Holz zu holen, das er von Mr Morgan erstanden hatte, gönnerhaft eingetauscht gegen den Fisch aus Kalkstein. Damals hatte Byrne noch versucht, an seinen Grundsätzen festzuhalten und die geradezu schamlos große Menge Geld, die er im Krieg verdient hatte, nicht anzurühren … obwohl es erstaunlich war, was ein kalter Winter im Norden mit solchen Grundsätzen anrichten konnte. Unter solchen Gewissensbissen litt er jetzt nicht mehr.
Der Einkauf war notwendig geworden, weil Byrne nicht mehr die Kraft besaß, das Holz selbst zu hacken. Du lieber Himmel, wie sehr er es hasste, so hilflos zu sein. Er lud das Klafter Holz auf einen Schlitten und zog ihn zur Hufschmiede, an der er Pferd und Wagen zurückgelassen hatte, weil das Pferd neu beschlagen werden musste. Für diesen Dienst würde er eine der Porzellanfigurinen hergeben. Im Nachhinein dachte er, dass es klüger und umsichtiger gewesen wäre, erst auf den neuen Beschlag seines Pferdes zu warten und dann das Holz zu holen. Aber die Frustration siegte oft über die Vernunft, und Byrne wollte nichts anderes, als einfach nur nach Hause fahren. Mit dem Schlitten im Schlepptau kam er auf der Hauptstraße an Dr. Lawfords Anwesen vorbei.
Und blieb stehen. Und starrte auf das Haus.
Es war dunkel. Selbst im oberen Stockwerk, wo der Doktor seine Wohnung hatte, war alles finster. Die Geschäfte an der Straße hatten inzwischen geschlossen, aber in den Etagen darüber brannte Licht, und das bedeutete, dass die Ladeninhaber zu Hause waren. Höchstwahrscheinlich genossen sie ein köstliches Dinner.
Was aber auch bedeutete, dass es ihnen schwer möglich sein würde, etwas zu erkennen, wenn sie aus dem Fenster hinaus in die Dunkelheit schauten.
Vielleicht hatte der Doktor sich früh zurückgezogen. Vielleicht war er zu einem Hausbesuch gerufen worden. Der Schnee auf der Straße war so dick und matschig, dass Byrne nicht in der Lage war, frische Fußstapfen zu erkennen. Falls es überhaupt welche gab.
Noch bevor ihm bewusst wurde, dass er gerade beschlossen hatte, dort einzubrechen, hatte er schon die Hand nach dem Türknauf ausgestreckt. Es war nicht abgeschlossen. Wer um alles in der Welt empfand es in Reston auch als Notwendigkeit, eine Haustür abzuschließen? Sie klemmte ein bisschen, sodass er sich mit der Schulter leicht dagegenstemmen musste, um ins Haus zu gelangen; glücklicherweise blieb der Lärm ungehört.
Ob Dr. Lawford wohl eine Haushälterin hatte? Byrne wusste es nicht, aber immerhin war es möglich. Er nutzte also jene Fähigkeiten, von denen er geglaubt hatte, sie wären seit Langem eingerostet. Er stahl sich durch die Schatten so still und unauffällig wie ein Atemhauch im Wind. Mit Leichtigkeit fand er das Ordinationszimmer Dr. Lawfords. Er suchte die Regale mit den Fläschchen und Salben ab. Seine Verzweiflung wuchs, er warf einige der Fläschchen zu Boden, schob Papiere zur Seite, durchwühlte Schubladen. Der Mann war studierter Arzt, er musste doch irgendetwas haben, womit Byrne den Schmerz in seinem Bein besänftigen konnte oder das ihn schlafen lassen würde …
Dann stieß er auf die Schatulle. Weitab und getrennt von den anderen Zaubermitteln, verborgen in einer Schublade im Schreibtisch des Doktors. Er öffnete sie. Als er die Ampullen mit dem süßen Nektar sah, fing er beinahe zu weinen an. Am liebsten hätte er sofort aus einem Fläschchen getrunken, wenn da nicht dieser eine übermächtige Gedanke in seinem Kopf gewesen wäre … dass man ihn bewusstlos am Boden liegend auffinden würde, sei es in ein paar Minuten oder erst am nächsten Morgen. Und damit wäre alles zu
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