Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
stand am kleinen, rechteckigen Fenster, das offen stand, um die stickige Luft zu vertreiben. In der entferntesten Ecke stand ein schmiedeeisernes Bett, das nicht gemacht war – in der Matratze war noch Byrnes Körperabdruck erkennbar. Neben und auf dem Bett lag ein Dutzend Bücher. Jane wäre nicht überrascht, würde sie bei näherem Hinsehen auch schmutziges Geschirr in dem Durcheinander finden.
Während Jane stumm das nachlässige Leben der Junggesellen kritisierte, ging Byrne zu der Mauer, an der sich der Schornstein des Hauses befand. Er steckte die Spitze seines Stockes in ein Astloch eines der Dielenbretter; es reichten eine kurze Drehung und der richtige Winkel, um das Brett hochzuheben.
Jane trat näher; Neugier siegte über Zurückhaltung. Als sie in den Hohlraum schaute, sah sie dort eine kleine schwarze Lederschatulle.
»Mach sie auf«, sagte Byrne ruhig.
Sie kniete sich hin und zog das Kästchen aus seinem Versteck. Das Leder fühlte sich steif und sehr hart an. Als sollte es etwas Zerbrechliches schützen. Jane legte es behutsam auf den Boden, öffnete die Metallschließe und schaute hinein.
In den mit Samt ausgeschlagenen Abteilungen befand sich ein Dutzend Flaschen – alle leer bis auf eine, die zur Hälfte mit einer gelblichen Flüssigkeit gefüllt war.
»Laudanum«, las sie die Inschrift auf dem silbernen Deckel.
Byrne zog die Brauen hoch. »Lies, was auf der Seite der Schatulle steht.«
Jane drehte sie herum. Dr. F . J. Lawford, las sie die verblassenden Goldbuchstaben.
Ihr Blick flog in Byrnes Gesicht. »Woher hast du diese Schatulle?«
Ein trockenes Lächeln spielte über seine Lippen. »Ich habe sie gestohlen.«
16
»Du hast sie gestohlen?«
Die Schatulle stand zwischen ihnen auf dem Boden. Jane hatte sich erhoben und ging nervös hin und her; Byrne hingegen lehnte sich lässig gegen die Backsteinmauer des Kamins.
»Warum?«, fragte Jane und sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an.
Byrne nahm ihr die halb gefüllte Flasche aus der Hand. Er hielt sie für einen Moment in das Licht der Nachmittagssonne, das sich in der Flüssigkeit fing; Sonnenstrahlen und Gold verbanden sich miteinander.
»Ich bin sicher, dass du inzwischen bemerkt hast, wie … wie sehr diese Substanz mich im Griff hat«, fing er an und stellte die Flasche wieder in ihr Fach zurück.
Trotz ihrer Aufregung verharrte Jane reglos. Sie hielt den Blick immer noch auf das Laudanum gerichtet, als sie ernst nickte.
»Aber es ist Dr. Lawfords Schatulle. Wie ist sie hergekommen?«, fragte sie leise.
Und er erzählte es ihr.
Es war im Winter gewesen. Und Byrne hatte die Erfahrung gemacht, dass die Winter im Lake District nicht besonders freundlich waren. Eher kalt und nass. Es kostete mehr Aufwand, das Feuerholz trocken zu halten, als es zu sammeln. Die Seen und Flüsse überzogen sich mit einer Eisdecke, auf den Fjells lag schon im Oktober Schnee und an Allerheiligen war der gesamte Norden davon wie in eine einzige Decke gehüllt.
Seinen Vorgesetzten im Innenministerium sagte er, er habe sich an den Merrymere zurückgezogen, um Ruhe zu haben und um zu genesen. Tatsächlich aber hatten seine Brüder ihn gezwungen, London zu verlassen und damit allen Verlockungen den Rücken zu kehren, denen er in seiner Schwäche frönte. Sein älterer Bruder Graham hatte sogar gewollt, dass er sich auf das kleine Familienanwesen in Kent zurückzog, aber Byrne hätte die ständige Anwesenheit seiner Schwägerin Mariah nicht ertragen können; er wollte sie nicht um sich haben. Er wollte allein sein. Er wollte seine Dämonen und seinen Schmerz allein besiegen.
Es war ihm nicht gelungen.
In jenem Winter hatte er dahinvegetiert wie ein Gespenst. Tollwütig, wild und verloren; der Schmerz in seinem Bein hörte niemals auf. Die Leere in seinem Leben fraß ihn auf. Er schlief nicht, weil seine Träume es nicht zuließen – entweder sah er immer wieder das Bild vor sich, wie seinem Bruder ein Bajonett in die Seite gestoßen wurde, ohne dass er es hatte verhindern können – zum Teufel noch mal, dass er so anmaßend gewesen war, sich einzubilden, dass nichts geschehen würde, so lange er nur in der Nähe war – oder er durchlebte von Neuem, dass er mit letzter Kraft versuchte, sich an die französische Küste zu retten, während das Blut aus der Schusswunde in seinem Oberschenkel sickerte. Oder er sah den Jungen vor sich, der als Kurier für sie gearbeitet hatte, und dem man in einer Gasse die Kehle aufgeschlitzt hatte. Oder er dachte an
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