Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
Victoria erstarrte.
Oh nein. Er wollte ihr den Stiefel ausziehen.
Victoria gehörte zu den eher zierlichen Frauen, war sie doch von schmaler Gestalt und nicht sehr groß, aber aus irgendeinem Grund waren ihre Füße flach und breit und hässlich geraten. Es waren in der Tat wahre Entenfüße, und der Schuhmacher hatte Leisten nur für sie angefertigt! Da sie wusste, dass der Doktor den Blick auf sie gerichtet hatte, schüttelte sie heftig den Kopf.
»Aber warum nicht?«, fragte er mit einer Stimme, aus der nichts anderes sprach als ärztliche Sorge. »Miss Victoria, ich versichere Ihnen, dass ich keineswegs andeuten wollte …«
»Das ist es nicht«, unterbrach sie ihn, und um ehrlich zu sein war es sogar … angenehm, dass seine Hand sanft auf ihrem Knöchel ruhte. »Gewiss müssen Sie sich den Knöchel ansehen, nur …« Er neigte den Kopf zur Seite und lauschte geduldig. »Meine Füße sind so schrecklich groß.« Endlich war Victoria mit der Sache herausgerückt. Sie richtete den Blick auf die Kissen auf dem Sofa und wünschte sich, dass ihre Schmerzen endlich nachließen, wünschte sich, nicht ausgerutscht zu sein, wünschte sich vor allem, sie hätte Dr. Berridge – Andrew – nicht in ihr beschämendes Geheimnis einweihen müssen.
Aber als sie es wagte, seinen Blick zu erwidern, schüttelte er lächelnd den Kopf und zog den Senkel aus ihrem Stiefel.
»Seien Sie nicht albern, Victoria«, grinste er sie an. »Ihre Füße sind perfekt.«
Und plötzlich fühlte Victoria sich ein wenig wacklig.
Vorsichtig zog er ihr den Stiefel aus und tastete den Knöchel ab. Um nichts in der Welt wollte es Victoria gelingen, den Blick von seinen Fingern zu lösen. Wie sanft und leicht sie sich anfühlten! Es schien, als hinterließen sie ein Kribbeln auf ihrer Haut, eine Linie goldener Nadelstiche, wo auch immer er sie berührte.
Bis er ihren Fuß leicht drehte und die goldenen Nadelstiche sich in einen scharfen Schmerz verwandelten. Victoria versteifte sich sofort und sog scharf die Luft ein.
»Das tut weh, vermute ich?«, fragte er und drehte ihren Fuß sofort in eine bequemere Position.
»Ja«, erwiderte sie leise. Und dann verfing sich ihr Blick mit seinem. Und die merkwürdigsten Dinge geschahen.
Sie verlor sich. Verlor sich so sehr, dass sie einen Moment lang vergaß, warum sie sich eigentlich im Salon aufhielten, warum seine Hand auf ihrem Fuß ruhte, warum die Utensilien aus dem Nähkasten auf dem Boden verstreut lagen …
»Es ist meine Schuld«, platzte sie heraus, als sie sich ihrer Umgebung wieder bewusst wurde. »Ich habe die Beherrschung verloren«, gestand sie kleinlaut.
Da er sie unverwandt ansah, begann Victoria zu berichten, was sich abgespielt hatte, bevor er eingetroffen war. Sie schilderte, dass Michaels und Joshuas Unfug einfach kein Ende zu nehmen schien und wie sehr sie überreagiert hatte. »Alles in allem wollten die beiden nur Angeln gehen.«
»Ich fürchte, da muss ich widersprechen«, sagte Andrew, nachdem die Geschichte erzählt war. »Diese jungen Frechdachse haben nur an ihr eigenes Vergnügen gedacht, und ihr Egoismus hat dazu geführt, dass Sie sich verletzt haben. Sie haben nichts getan, als den beiden ihre längst verdiente Schelte zu verpassen.« In seinen Augen blitzte ein Gefühl auf, das Victoria nicht deuten konnte. »Und wenn die beiden wieder aus ihrem Versteck kommen, werde ich sie auch noch mal ausschimpfen.«
Bevor Victoria ihm widersprechen oder ihn fragen konnte, warum er sich auf solche Art einzumischen gedachte, stand er auf und klopfte sich die Hose an seinen Knien ab.
»Ich kann keine Verstauchung feststellen«, verkündete er. »Sie haben sich den Knöchel nur verdreht. Ich empfehle Ihnen, den Fuß in den nächsten Tagen nicht zu sehr zu belasten.«
»Nicht zu sehr zu belasten?«, hakte Victoria erschrocken nach. »Aber das ist lächerlich! Ich kann mich nicht einfach ins Bett legen!«
Sie versuchte aufzustehen, aber der Doktor sorgte mit sanftem Druck auf ihre Schulter dafür, dass sie sich wieder aufs Sofa setzte, und nahm neben ihr Platz.
»Ich verlange nicht, dass Sie Bettruhe halten. Aber vielleicht sollten Sie es mal langsamer angehen lassen und sich ein wenig Ruhe gönnen.«
»Ich kann nicht … wer soll denn … es gibt viel zu viel zu tun!«, stammelte sie, wurde aber von seiner Hand auf ihrer Schulter wieder beruhigt.
»Lassen Sie doch ausnahmsweise einmal zu, dass sich jemand um Sie kümmert«, beharrte er lächelnd. Seine Hand fand den Weg zu
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