Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
Erkenntnis, dass nun er es war, der alle Verantwortung trug.
Eigentlich hätte er diesem Treiben dort unten im See sofort ein Ende machen müssen, bevor noch jemand anderer die beiden sah, oder bevor … der Himmel möge es verhüten … die Umstände außer Kontrolle gerieten. Und Jason hatte genügend Alkohol im Blut, um zur Tat zu schreiten.
Andererseits war er noch nüchtern genug, um sich zu sagen, dass eine solche Maßnahme Jane nur noch unerträglicher machen würde. Sie hatte schon immer nur das getan, wonach ihr der Sinn stand, und wenn er sie zur Ordnung rief, würde er sie hinter Schloss und Riegel halten müssen, um zu verhindern, dass sie noch mehr Unfug trieb.
Ihm fiel auf, dass das Wasserplanschen leiser geworden war, irgendwie aber auch näher kam. Jane watete vermutlich ans Ufer. Er riskierte einen Blick. Ja, Mr Worth war verschwunden, und sie kam wieder an Land. Jason duckte sich rasch wieder. Er würde nur unentdeckt bleiben, wenn er reglos verharrte. Er wartete, bis Jane die Treppe zum Haus hinaufstieg. Dieser Ausdruck auf ihrem Gesicht …
Jason erhaschte nur einen kurzen Blick auf sie, aber er hätte schwören können, dass Jane glücklich aussah. So glücklich, wie er sie seit mehr als einem Jahr nicht mehr gesehen hatte.
Oder sich selbst.
Entschlossen schüttelte er die rührseligen Gefühle ab, streckte seine steif gewordenen Beine und versuchte, die gegebene Situation einzuschätzen. Jane durfte es nicht gestattet werden, ihre Tändelei mit diesem Mann fortzusetzen. Aber seine langjährige Erfahrung verriet ihm auch, dass es ihm nicht gelingen würde, ihr seinen Willen aufzuzwingen. Er konnte sie nicht fortschicken … denn das würde Vater aufregen; ganz davon abgesehen, dass er unbedingt ein Auge auf sie haben musste.
Daher wurde es wohl höchste Zeit, selbst für einige Aufregung zu sorgen.
Und Jason wusste ganz genau, wo er damit anfangen würde.
Es war Mittagszeit, und Victoria hätte sich am liebsten die Haare gerauft.
Ihren Vater konnte sie nicht um Hilfe bitten. Er war ausgegangen, um sich wieder einmal mit Mr Cutler zu treffen und zu besprechen, welche Konsequenzen Mr Worths Benehmen gestern Morgen haben sollte. Eine Konsequenz war gewesen, dass Lady Wilton den ganzen gestrigen Tag damit verbracht hatte, mit Victoria im Schlepptau von einem Haus zum anderen und in jeden Laden zu gehen, um sich über das empörende Verhalten Mr Worths auszulassen. Heute nun war sie mit Penelope (Mr Brandon war wegen seiner Geschäfte nach Manchester abgereist) und den Mädchen zu Mrs Hill gegangen, um neuen Stoff für Kinderkleider zu kaufen – denn Michael und Joshua hatten beschlossen, das Wäscheseil samt daran hängender Wäsche zu benutzen, um sich vom Baum in den Fluss zu schwingen. Zu diesen Wäschestücken hatten auch die Sonntagskleider der Mädchen gezählt.
Es schien, dass Joshuas Nahtoderfahrung der Begeisterung der Jungen für neuen Unsinn keinen Abbruch getan hatte. Es war fast schon ärgerlich, dass er sich so gut erholt hatte. Denn in diesem Moment hatten sie sich Victorias Nähkästchen geschnappt, waren in den Salon gestürmt und durchwühlten jetzt den Inhalt des Kästchens. Dabei warfen sie einfach zu Boden, was sie nicht brauchten; unter Tischen und Sofas lagen bereits Nadeln, Knöpfe und Garnrollen verstreut.
»Was macht ihr da?«, rief Victoria, als sie den Tatort erreichte.
Unschuldig wie zwei Engel blickten die Missetäter von ihrer Arbeit auf.
»Wir brauchen Garn«, verkündete Michael.
Victoria schaute auf das halbe Dutzend Garnrollen, das in alle Ecken des Zimmers gerollt war.
Sie presste die Hand an die Schläfe. »Wozu?«, fragte sie.
»Wir wollen angeln«, antwortete Michael.
»Und wir brauchen Garn in der Farbe des Wassers, damit die Fische es nicht sehen!«, ergänzte Joshua fröhlich und widmete sich wieder dem Inhalt ihres Nähkästchens. »Aber du hast nur blau und grün statt blaugrün wie das Wasser.«
»Und wenn wir zwei zusammenknoten?«, schlug Michael vor. Plötzlich konnte Victoria es nicht mehr ertragen. Seit etwa zwei Wochen war es das erste Mal, dass das Haus beinahe leer war. Das erste Mal, dass sie nicht über Penelope oder ihre Nichten stolperte, ganz gleich, wie sehr sie die Kleinen auch anbetete; es war das erste Mal, dass es nicht darum ging, wie Babys auszustaffieren waren. Heute war sie weder gezwungen, bei ihrer Mutter zu sitzen und ihr zuzuhören, noch war jemand zu Besuch gekommen, mit dem sie zu sprechen wünschte. Und es
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