Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
wartete ab, beobachtete. Das kann er wirklich gut, dachte Jane mit freudlosem Humor.
»Die meiste Zeit ist er noch ganz er selbst. Aber manchmal … wie heute …« Jane hatte das Gefühl, nicht mehr weitersprechen zu können; also schwieg sie. Dann atmete sie tief durch und fuhr fort: »Keiner der Ärzte in London hat uns Hoffnungen gemacht. Mein Bruder und ich haben ihn hierher an den See gebracht. Damit er nicht in London von allen angestarrt wird, jetzt während der Saison. Und damit wir uns um ihn kümmern können.«
Wieder breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus.
»Ich habe den Eindruck«, sagte Byrne schließlich, »dass du für den größten Teil des Sich-Kümmerns zuständig bist.«
»Er hat Krankenschwestern«, erwiderte Jane verteidigend. Sie wusste, wie schwach die Verteidigung war. Und Byrne wusste es auch.
»Warum hast du es mir nicht gesagt«, fragte er schließlich und schaute sie an.
»Ich weiß es nicht.« Ihre Stimme war so dünn, dass sie kaum noch wie ein Wispern klang.
»Ich möchte es wirklich gern wissen, Jane. Warum nicht? Ich hätte doch zu helfen versucht, oder …«
»Weil ich nicht wollte, dass du es weißt!« Jane stand auf und begann, hin und her zu gehen. »Weil ich auch etwas für mich behalten wollte. Verstehst du das nicht? Manchmal muss ich mich an einen Ort flüchten, an dem weder mein Vater noch mein Bruder existieren.«
»Und mein Haus ist dieser Ort«, schloss Byrne. »Aber wenn dich das unglücklich macht …«
»Es ist der einzige Ort, an dem ich glücklich war!«, gab sie verzweifelt zurück.
»So funktioniert es nicht, Jane.« Byrne stand auf und folgte ihr. »Lass dir das von jemandem gesagt sein, der sich damit auskennt, ein Doppelleben zu führen und belastende Geheimnisse für sich zu behalten. Eine echte Flucht gibt es nicht. Man kann sich nicht zweiteilen und zwischen zwei Leben hin und her wechseln. Sie greifen ineinander über, sie verzahnen sich und irgendetwas geht dabei verloren.«
Irgendetwas. Dieses Irgendetwas – das sind Vater und mein Seelenfrieden, dachte sie wehmütig.
»Du hast mir gesagt, dass ich jederzeit zu dir kommen kann«, sagte Jane nach einer Weile.
Er schaute sie an und nickte. »Das habe ich. Und das war selbstsüchtig von mir. Ich habe dir eine friedliche Zuflucht angeboten, weil ich dich sehen wollte. So viel Zeit stehlen wollte wie nur möglich.«
Janes Herz machte einen Sprung, als er das sagte; diese Erklärung seiner Sehnsucht klang in ihren Ohren wie die reinste Poesie. Vielleicht konnte alles so bleiben wie es war: Sie könnte sich in seinem Haus verstecken, sie könnten die Gesellschaft des anderen genießen …
Dann sagte er: »Allerdings dachte ich, dass deine Probleme sich darauf beschränken, zu viele Gäste im Haus zu haben.«
In diesem Moment wusste Jane, dass ihre Hoffnungen vergebens waren. Dass sie hatten genährt werden können, weil sie nicht von Anfang an offen gewesen war. Plötzlich schien es, als sei alles ihr Fehler. Zorn stieg in ihr hoch, sie glaubte rote Funken vor den Augen zu sehen. Nein, das stimmte nicht; es war nicht alles ihr Fehler.
»Wenn ich dir von meinem Vater erzählt hätte, was hättest du getan?«, fragte sie.
Byrne zog die Brauen hoch.
»Du hättest mir gesagt, dass ich nach Hause gehen soll. Dass ich dich nicht wiedersehen kann, richtig?«, antwortete Jane an seiner statt.
»Vermutlich.«
»Natürlich nur, weil es das Beste für mich wäre. Du hättest mich also fortgeschickt und dich wieder in dein kleines Leben in deinem kleinen Haus zurückgezogen. Eingeschlossen in deine Probleme, ohne irgendeinen Gedanken an die Welt da draußen«, begann Jane zu schimpfen und marschierte dabei weiter auf und ab; sie wusste, dass Byrne ihr nur mit dem Blick folgte. »Und wenn du es dir gestattet hättest, dich wieder in dein altes Selbst zu verkriechen, dann wären deine zögerlichen Schritte hinaus in die Welt wieder vergessen gewesen. Aber wer sollte darüber mit dir streiten? Jane bestimmt nicht.«
Sie neigte den Kopf zur Seite und musterte ihn. »Ich bin meinem Bruder böse, wenn er seine Pflichten vernachlässigt, wenn er nicht arbeitet, wenn er feiern geht und sich mit seinen Freunden zum Narren macht. Aber immerhin lebt er in dieser Welt. Immerhin versteckt er sich nicht.«
Byrne gab keine Antwort. Sein Blick schien sie zu durchbohren, als er sie anstarrte; in seinen eisblauen Augen blitzte die unterdrückte Wut auf.
»Vielleicht habe ich es dir deshalb nicht erzählt«, sagte
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