Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
sie und stellte sich vor ihn hin, nahm ihn genau ins Visier. »Denn hätte ich es getan, hättest du mich fortgeschickt. Nicht um meinetwillen, sondern weil in Byrnes kleinem Haus, in seinem kleinen Leben und mit seinem halben Fläschchen Laudanum niemand Kummer und Schmerz empfinden darf. Niemand außer dir natürlich.«
Sie stand direkt vor ihm, Auge in Auge. In seinem Blick brannte ein Feuer, ein kaum noch zu zügelnder Zorn, sodass sie (flüchtig und unbarmherzig) dachte, er würde sie schlagen. Falls er es tat, würde sie es ihm nicht einmal vorwerfen können. Sie wusste nicht, was sie dazu getrieben hatte, das zu sagen, so weit zu gehen, wie sie gegangen war … aber es spielte auch keine Rolle. Denn in diesem Augenblick, in dem er vor Energie bebte, streckte er die Hand aus und berührte sie.
Weich, zärtlich. Als könnte sie zerbrechen … und beinahe wäre es auch geschehen. Er liebkoste ihre Wange, sein Daumen streichelte ihre Unterlippe … oh, wie sehr sie sich danach sehnte, dass er sie küsste! Sie wollte, dass er sie in seine Arme zog und all das von ihr fortnahm – diese schreckliche Wut und den Zorn und den Streit, all das Hässliche, das sie beide zu Boden drückte. Und für einen langen und herrlichen Moment schien es, als würde er es tun.
Doch er beugte sich zu ihr, und mit unendlicher Selbstbeherrschung drückte er ihr den züchtigsten aller Küsse auf die Stirn und sagte: »Jane, geh nach Hause.«
Welche Illusionen sie auch immer über ihre Freundschaft und ihre gemeinsame Zeit gehegt hatte – in diesem Moment zerstoben sie und enthüllten die härteste Wahrheit.
»Ja, natürlich … natürlich«, wisperte sie und wich von ihm zurück. Denn wenn er sie noch einmal berührte, würde das ihren sicheren Tod bedeuten, dessen war sie sich ganz sicher. »Auf Wiedersehen«, sagte sie, drehte sich um und ging fort, bevor sie es sich anders überlegen konnte.
Sie weinte nicht, als sie zum Cottage zurückging. Mit aller Macht kämpfte sie gegen die Tränen an, indem sie sich an den Gedanken klammerte, wie vernünftig dieses Ende ihrer Geschichte war.
Im Moment musste sie bei ihrer Familie bleiben. Und wenn Byrne sie deswegen zurückwies, nun, dann konnte sie ihn doch sowieso zum Teufel schicken. Auf der Treppe zur Haustür traf sie auf den Butler, der ihr mitteilte, dass das Abendessen serviert sei; es war der Moment, in dem Jane klar wurde, dass sie an den Ort zurückgekehrt war, an den sie gehörte.
Alles in allem hatten sie doch beide gewusst, wie es enden würde. Nur dass es jetzt ein paar Tage früher geschah als erwartet.
Mehr als einen Sommer lang hätte es ohnehin nie währen sollen.
Byrne saß am Bach, als der Abend anbrach. Ausnahmsweise wollte er weder in sein kleines Haus noch in sein kleines Leben zurückkehren. Irgendwie beschlich ihn die Ahnung, dass das, was sich einst so gemütlich und sicher angefühlt hatte, jetzt trostlos und leer erscheinen würde.
Scharfsichtig hatte Jane auf seinen wunden Punkt gezielt: dass er sich vor dem Leben versteckte.
Aber er hatte doch auch Fortschritte zu verzeichnen, oder etwa nicht?
Und das glaubst du wirklich? Die kleine Stimme in seinem Innern meldete sich wieder zu Wort. Byrne verdrehte die Augen.
»Ja, das glaube ich«, konterte er. Seine Stimme hallte über den Bach. Schließlich war er doch zu diesem Dorffest gegangen. Er hatte versucht, auf der Straße jedermann freundlich zu grüßen. Er hatte …
Wann hast du das letzte Mal deinem Bruder geschrieben? Oder ein neues Hemd gekauft? Oder einen Besuch gemacht? Nein, du schließt dich einfach nur in deinem kleinen Haus ein, genau wie sie es gesagt hat.
Aber es ist doch nicht wie früher!, beharrte er nachdrücklich. Ich bin …
Was bist du?, schoss die kleine Stimme zurück. Ein gebrochener Mann?
Byrne schwieg, er war nicht in der Lage, darauf zu antworten.
Bist du noch immer dieser gebrochene Mann? Die Stimme hörte nicht auf, ihn zu piesacken.
Nein. Es beruhigte ihn sehr, als es ihm bewusst wurde. Nein, das war er nicht mehr. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte Byrne sich wieder heil und ganz. Fühlte er sich in der Lage, in die Welt hinauszugehen.
Warum also zögerte er? Was hielt ihn in seinem kleinen Haus? Was hatte ihn dazu gebracht, Jane fortzuschicken? Warum hatte er sie gehen lassen?
Warum hebst du diese halbe Flasche Laudanum immer noch auf?
Inzwischen war es vollkommen dunkel; das Dämmerlicht war dem Sternenhimmel gewichen. Byrne schaute hinauf und erkannte am
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