Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
sich wieder derselbe fassungslose, verwirrte und verängstigte Ausdruck wie damals, als die Episoden seines Vaters ihm zum ersten Mal bewusst geworden waren. Aber das war nicht alles. Noch etwas lag darin; es war eine Schuldzuweisung.
Er gab ihr die Schuld.
Und sie selbst gab sie sich auch.
»Darf ich ihn sehen?«, fragte sie so ruhig wie möglich.
Die Ärzte wechselten einen Blick und nickten. »Nur ein paar Minuten. Wahrscheinlich schläft er. Wecken Sie ihn nicht auf.«
Jane nickte. Mit einem Blick auf ihren Bruder betrat sie leise das Schlafzimmer ihres Vaters.
In dem übergroßen Bett wirkte ihr Vater sehr klein, das Federbett schien ihn fast zu verschlucken. Wie eine Büßerin näherte Jane sich dem Bett, wie ein Kind, das bei einer Missetat ertappt worden war. Niemals war ihre Angst vor ihrem Vater größer gewesen als in den Momenten, in denen ihr eine Bestrafung gewiss gewesen war. Aber dies … dies war irgendwie noch viel schlimmer.
Er schlief. Jane stand reglos am Bett und schaute ihn an. Und ihr wurde bewusst, wie sehr er sich verändert hatte. Er war nicht mehr der Vater, wie sie ihn gekannt hatte.
Wann hatte er aufgehört, der Vater für sie zu sein? Wann hatte er aufgehört, als Person zu existieren? Wenn sie ihn jetzt ansah, sah sie nur die Verantwortung, die sie trug, und dass sie versagt hatte. Wann hatte es angefangen, dass aus dem starken, tapferen Mann ihrer Erinnerung diese kleine, zerbrechliche Gestalt geworden war? Wann hatte sie beschlossen, davor wegzulaufen?
Sie durfte das nicht tun. Es durfte nicht sein, dass sie jegliche Vernunft und jegliches Mitgefühl zugunsten ihres eigenen Vergnügens aus dem Blick verlor.
»Es tut mir leid«, hauchte sie und schob ihrem Vater das weiße Haar aus der Stirn. Er atmete leise und ruhig. Während Jane beobachtete, wie ihr Vater ein- und ausatmete, wünschte sie sich zum ersten Mal, es möge jemanden geben, bei dem sie sich anlehnen konnte. Dem sie sich anvertrauen konnte und der wusste, was für ihren Vater zu tun sei.
Sie wünschte, ihre Mutter wäre da.
21
Nachdem Jane und Victoria so überstürzt das Haus verlassen hatten, blieb Byrne nichts übrig, als im Wohnzimmer auf und ab zu marschieren, soweit sein verletztes Bein das zuließ. Er zerbrach sich den Kopf darüber, was geschehen sein mochte und was all das zu bedeuten hatte.
Es kam nur selten vor, dass Byrne Worth keine Ahnung hatte, was zu tun war. Er war es gewohnt, seine Entscheidungen rasch zu treffen und entsprechend zu handeln. Doch im Moment fühlte er sich eher orientierungslos.
Irgendetwas stimmte nicht. Jane hatte keineswegs verlegen reagiert, als Victoria so unerwartet hereingeplatzt war. Aber sie hatte Angst gezeigt, als ihr Vater erwähnt worden war. Es war jetzt bereits das zweite Mal, dass er diese Reaktion bei ihr erlebte. Beim ersten Mal hatte er keinen weiteren Gedanken daran verschwendet; es hatte ihn nur abgehalten, sie zu Hause aufzusuchen. Aber jetzt … jetzt war es zu einem Teil eines größeren Puzzles geworden. Und dieses Mal war sie sofort aus dem Haus geeilt. Sie hatte Byrne so absolut aus ihren Gedanken verdrängt, als existiere er gar nicht.
In seinem alten Leben als Blue Raven hatte ihn dieses Nicht-existent-Sein durchaus nicht gestört. Zum Teufel noch mal, er hatte es sogar ganz nützlich gefunden. Im Schatten zu verschwinden, immer an den Abgründen des Lebens zu balancieren – es bedeutete, dass er beobachten konnte, zurücktreten konnte, um das gesamte Bild zu betrachten. Aber diesmal – diesmal steckte er selbst zu tief drin. Er war zu besorgt, dass sein Tun sie verschrecken könnte wie ein neugeborenes Fohlen. Er war schon zu sehr mit ihr verbunden, als dass er mit einem Blick hätte sagen können, was sie belastete und was er dagegen tun konnte.
Byrne blieb abrupt stehen. Aber natürlich – es war doch ganz einfach. Diese Lage erforderte vor allem eines: Sie musste ausgekundschaftet werden.
»Dobbs!«, rief Byrne. »Wir reiten aus.«
Es war nicht besonders schwierig für Dobbs, zu den Ställen nahe dem Cottage zu gehen und ein paar einfache Fragen zu stellen, während er so tat, als würde er einen Stein aus dem Hufeisen seines Pferdes entfernen. Die Stallburschen liehen ihm bereitwillig den notwendigen Hufkratzer und versorgten ihn zugleich mit Klatsch und Tratsch. Als Dobbs sein Pferd zurück auf die Straße in Richtung Reston lenken konnte, hatten sie schon fast wieder vergessen, dass er je dort gewesen war.
Auch Byrnes
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