Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
konnte, als einen Moment lang mit offenem Mund dazustehen und zu staunen.
»Sommernacht« hatten sie als Motto gewählt. Eigentlich war ja bereits Herbst, und es stimmte auch, dass das Motto nicht besonders originell war, aber es lag ein gewisser Zauber darin, das Draußen nach drinnen zu bringen. Jahreszeitliche Blumen (Rosen und Wildblumen – offenbar hatte Charles diesen Streit für sich entschieden) prangten überall im Foyer. Stoffbänder hingen von der Decke, dunkelblaue und grüne, verziert mit Perlenstickereien, die wie Sterne funkelten.
Jason war der Erste, den sie begrüßte, nachdem sie ihren Umhang abgelegt hatte, und er sah in seinem Abendanzug geradezu unverschämt gut aus, jedenfalls gemessen an dem Gemütszustand, in dem sie sich befand.
»Miss Victoria«, er durchquerte die Halle und wich einer Anzahl erschrockener Dienstboten aus, die noch irgendwelche Dinge von einer Ecke in die andere räumten oder Fenster öffneten und wieder schlossen. »Ich darf mir die Bemerkung erlauben, dass Sie wundervoll aussehen«, sagte er und beugte sich über ihre Hand.
Mit aller Macht versuchte Victoria, nicht in Ohnmacht zu fallen. Die alte Victoria hätte sich zu einer Pfütze auf dem Boden verflüchtigt, aber die neue Victoria – die klarsichtige – musste auf Abstand bleiben und ihre sieben Sinne beisammenhalten.
»Danke, Mylord«, erwiderte sie und blickte züchtig durch ihre gesenkten Wimpern nach oben.
»Jane und die anderen sind im Ballsaal.« Er nickte in Richtung des Eingangs zum großen Saal. »Ich muss euch allen für die großartige Arbeit gratulieren, die ihr geleistet habt.«
»Dann begleiten Sie mich doch und machen es«, bot Victoria nett an und wunderte sich selbst ein wenig, wie sie flirten konnte.
Jason schien ebenfalls überrascht, denn seine Brauen schossen hoch. Aber gleich darauf schob er ihren Vorschlag beiseite. »Nein, im Moment ziehe ich meine Bibliothek vor. Bis der Wahnsinn in vollem Gange ist, muss ich mich noch mit einigen Arbeiten beschäftigen. Aber«, fuhr er augenzwinkernd fort, »lassen Sie Jane ruhig wissen, wo ich mich aufhalte, damit ich rechtzeitig die Gäste begrüßen kann.«
Hastig machte er sich zur Bibliothek davon und überließ es Victoria, sich allein auf den Weg in den Ballsaal zu machen.
Und irgendwie dämmerte es ihr, dass Jason sie trotz ihrer perfekten Frisur und ihres schönen neuen Kleides und ihres neuen beherrschten Auftretens nicht angeschaut hatte.
Sie behielt ihn im Auge, als der Ball begann. Hatte ihn pflichtbewusst holen lassen, als die Gäste eintrafen. Als die Musik zu spielen anfing, hatte sie gehofft, dass er kommen und sie um einen Tanz bitten würde; aber Jason war nirgends zu finden.
»Heute Abend sind Sie mit den Gedanken ganz woanders«, bemerkte Dr. Berridge, der so freundlich gewesen war, sie um die ersten beiden Tänze zu bitten. »Warum erlauben Sie sich nicht einfach, das Fest zu genießen? Hören Sie auf, sich über die Details den Kopf zu zerbrechen. Es ist alles in bester Ordnung.«
»Hm?«, gab Victoria zerstreut zurück. »Oh, das ist es nicht«, sie errötete. »Ich … ich versuche nur, jemanden ausfindig zu machen.«
»Nun«, bot er an, »ich genieße den Vorteil meiner Körpergröße. Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Wen versuchen Sie zu entdecken?«
Victoria schwieg und folgte weiter dem Takt der Musik. Aber irgendwie musste er sie durchschaut haben. Denn in diesen kurzen Sekunden verlor Dr. Berridge seine gute Laune und blieb stehen – mitten auf dem Parkett und sehr zu Victorias Überraschung. Ohne jede Erklärung führte er sie von der Tanzfläche.
»Was ist los?«, fragte Victoria verwirrt. »Stimmt etwas nicht?«
Aber der gute Dr. Berridge schwieg und hob statt einer Antwort die Hand, um eine der kleinen, zarten Blüten zu berühren, die ihr Haar zierten. »Nichts«, sagte er schließlich so freundlich wie immer, wenn auch nicht ganz so fröhlich. »Ich bin einfach nur müde.«
»Dann sollten wir zu den Erfrischungen gehen. Ich weiß, dass wir Champagner und Limonade aufgestellt haben …«, bot Victoria an, aber er schüttelte nur den Kopf.
»Der Marquis steht drüben an der Tür. Ich glaube, es kommen immer noch ein paar Gäste an. Er ist dort drüben, zusammen mit seiner Schwester«, sagte Dr. Berridge abrupt. Sein Gesicht verdüsterte sich, als er auf dem Absatz kehrtmachte und davonmarschierte, ohne sich zu verbeugen.
Plötzlich wurde Victoria bewusst, dass er verärgert war – jedenfalls so
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