Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
würde ihr der Boden unter den Füßen weggerissen. »Er hat mich nie angesehen?«
»Ich möchte nichts lieber, als meine Töchter an der Seite eines Mannes wissen, der sie wirklich ansieht . Denn wenn ein Mann dich nicht ansieht, liebt er dich nicht. Ganz gleich, wie stark deine Gefühle für ihn sind.«
Victoria beobachtete erstaunt, dass ihre Mutter sich eine Träne aus dem Auge wischte. »Eines Tages«, sagte Lady Wilton, »wirst du dein Leben in die eigenen Hände nehmen. Du wirst dich umschauen, und du wirst einen Mann finden. Einen guten Mann, der dich so anschaut, als gäbe es außer dir keine andere Frau auf der Welt. Und an diesem Tag wirst du meine Worte verstehen.«
Victoria wollte fragen, woher ihre Mutter das alles wusste, wollte wissen, ob sie wohl in der Lage sein würde, diesen einen Blick von allen anderen zu unterscheiden, als sie die Haustür gehen und kurz darauf Sir Wilton rufen hörten.
»Matilda!« Seine Schritte erklangen auf der Treppe. »Es ist so weit! Endlich!«
»Was für ein denkwürdiger Tag, mein Freund!«, rief eine weitere Stimme, die zu Mr Cutler gehörte.
»Matilda!«, rief Sir Wilton noch einmal nach seiner Frau; es klang ungeduldig.
Lady Wilton küsste ihre Tochter auf die Stirn, befahl ihr »Ruh dich aus«, und verließ das Zimmer, um sich um ihren Ehemann zu kümmern. Victoria dachte über die Worte ihrer Mutter nach, bis sie in einen traumlosen Schlaf sank.
An diesem Abend traf Victoria sorgfältigste Vorbereitungen. Und das betraf nicht nur ihr schönes, neues Kleid (cremefarbene Seide mit einem einzigen, perfekt passenden himmelblauen Band um die Taille, welches Mrs Hill, sofern man ihren Worten trauen durfte, den ganzen Weg aus London hergebracht hatte) oder ihr Haar oder ihr Gesicht – nein, sie war entschlossen herauszufinden, was ihr bis jetzt verborgen geblieben war.
Hatte ihre Mutter recht mit dem, was sie gesagt hatte? Seit über einer Woche half Victoria nun bei den Vorbereitungen zum Ball und hatte sich den größten Teil des Tages im Cottage aufgehalten, sie hatte weder auf ihre Brüder aufgepasst noch Zeit mit ihrer Schwester und deren Kindern verbracht. Und sie konnte sich an keinen einzigen Augenblick erinnern, in dem Jason ihr besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Dabei war sie überzeugt gewesen, dass er sie bemerken würde, wenn sie sich nur beständig in sein Bewusstsein drängte – anders als es in der Vergangenheit gewesen war. Nur … hatte er sie tatsächlich bemerkt?
Als sie zusammengesessen und geplant hatten, war er nur selten dabei gewesen. Ja, sicher, er war ein beschäftigter Mann. Einer der bedeutendsten Männer der Gesellschaft – zumindest musste er auf dieses Ziel hinarbeiten. Andernfalls hätte er mehr Zeit mit Charles und Nevill verbracht. Aber zu den Mahlzeiten war er hereingekommen und hatte auch mit ihr gesprochen.
War es nicht so gewesen?
Oder verhielt es sich nicht vielmehr so, dass er kaum mehr als Höflichkeiten von sich gegeben hatte? Seine Aufmerksamkeit war vielleicht nur der Tatsache geschuldet, dass er Victoria als Freundin seiner Schwester und als alte Bekannte der Familie betrachtete.
Aber er war doch zu ihr gekommen, um sie zu bitten, bei den Vorbereitungen zu helfen! Er war zu ihr gekommen .
Als Victoria sich die letzte Blume ins Haar steckte (Dr. Berridge war so freundlich gewesen, ihr, ihrer Mutter und Penelope je ein kleines Sträußchen zu schicken), waren ihr zwei Dinge klar geworden: Erstens hatte sie noch nie im Leben so hübsch ausgesehen wie jetzt.
Und zweitens musste sie dieser quälenden Sehnsucht ein Ende setzen und herausfinden, was Jason für sie empfand.
Herausfinden, ob er sie anschaute.
Daher sorgte Victoria dafür, dass sie bei ihrer Ankunft im Cottage einen großen Auftritt haben würde.
Jane, Charles und Nevill hatte sie versprochen, dass sie früh eintreffen würde, um noch einmal doppelt und dreifach die letzten Kleinigkeiten zu kontrollieren. Außerdem empfand sie auch einen gewissen Stolz auf ihr Werk. Es war ihr erster Ball. Der erste, an dem sie selbst beteiligt war; in mancher Hinsicht war es ebenso ihr Fest wie das der Cummings. Sie fuhr mit der Kutsche ihrer Eltern zum Cottage voraus und schickte den Wagen dann zurück, damit der Kutscher den Rest der Familie abholte.
Als der Butler der Cummings sie einließ, betrat sie eine Welt, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatte. Es war nur ein zartes Gefühl der Ehrfurcht, aber doch so überwältigend, dass Victoria nicht anders
Weitere Kostenlose Bücher