Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
bedeuteten.
Der einzige andere Gast hatte inzwischen seine Mahlzeit verzehrt. Zweimal war die Tür zur Schenke geöffnet und wieder geschlossen worden – das erste Mal, um die Katze hinauszulassen, und das zweite Mal, um einen weiteren Gast hereinzulassen. Er war ebenso still und namenlos wie der Erste, vertilgte seine Portion Eier aber sehr viel schneller.
Johnston polierte Gläser.
Und Lord Jason Cummings, Marquis of Vessey, wurde sturzbetrunken.
Oh, selbstverständlich war ihm das Ausmaß seines Rausches nicht bewusst, war er doch überzeugt, den Alkoholkonsum überlegen im Griff zu haben. Genau genommen glaubte er nicht nur, noch immer nüchtern zu sein, sondern erlag darüber hinaus auch der Fehleinschätzung, voll im Besitz seiner geistigen Kräfte zu sein. Zum Beispiel dachte er Gedanken wie diese: Würde das Universum anders aussehen, wenn die Erde rechteckig wäre anstatt rund? Und: Es kümmert mich nicht, was Charles und Nevill sagen; ich finde Miss Austens Werke sehr ansprechend. Und dann diese Überlegung, bei der er kurz kichern musste: Jede Wette, dass Mrs Johnston nicht annähernd so säuerlich dreinblicken würde, würde jemand es ihr mal richtig besorgen.
Er kicherte in die Richtung besagter Lady, als sie zu dem Mann mit dem Spazierstock ging und seinen leeren Teller abräumte. Die Frau war ein wenig aus der Form geraten – aber Frau blieb Frau. Das nahm Jason jedenfalls an; mochten sie und ihr Ehemann im Laufe ihrer Ehe auch seltsam ähnliche Konturen angenommen haben. Nichtsdestotrotz bewegte sie sich immer noch recht flink, und er war nicht wählerisch. Bestimmt ist noch alles an ihr dran, was eine ordentliche Nummer im Bett durchaus lohnenswert machen könnte, dachte er, während sein verstohlener Blick ihr bis zur Küchentür folgte.
Unglücklicherweise war sein abschätzender Blick von einem anderen Augenpaar bemerkt worden, dem Mr Johnstons.
Jason wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Glas zu. »Johnston!« Er klopfte mit den Fingerknöcheln auf das zerkratzte Holz des Tresens. Aber der gute – und wortkarge – Mann kam nicht, als er gerufen wurde. Nein, stattdessen ging er sogar fort!
Und das einem Marquis!
In seinen knapp vierundzwanzig Lebensjahren war Jason noch nie so behandelt worden. Er erhob sich; der Boden schwankte unfreundlich unter seinen Füßen. Verdammte Böden!
»He, Johnston!«, rief er. Wieder schwankte der Boden, dieses Mal riss er allerdings Jasons Füße mit. Zu seinem Glück stürzte er nicht – jedenfalls nicht zu Boden. Zu seinem Unglück taumelte er mehr oder weniger gegen den Gentleman mit dem Spazierstock, der eine Münze auf seinen Tisch geworfen hatte und auf dem Weg zur Tür war.
»He!«, wiederholte er und bemühte sich, sein Gleichgewicht zu halten. So kluge Gedanken der Whisky ihm auch beschert haben mochte – offenbar hatte er ihn aber auch der Worte beraubt.
»Langsam, Bursche«, mahnte der Gentleman und drückte Jason mit einer ärgerlich harten Armbewegung gegen den Tresen – ein solider Halt in einer überraschend schwankenden Welt. Jason konzentrierte seinen verschwommenen Blick auf den Fremden, der ihn durchdringend, aber auch voller Mitleid ansah.
Mitleid.
Ehe er wusste, was er tat, hatte Jason sich vom Tresen abgestoßen und folgte dem Fremden hinaus aus dem Oddsfellow Arms in den kleinen, matschigen Hof. Der Gentleman humpelte leicht, als er zu einem schlichten schwarzen Zweispänner ging.
»He!«, schrie Jason. Sein Vokabular war immer noch seltsam beschränkt, immerhin veranlasste er den Mann, stehen zu bleiben und einen Blick über die Schulter zu werfen.
»Ich …«, fing Jason an, ohne sich sicher zu sein, was ihm wohl als Nächstes über die Lippen sprudeln würde, »… ich bin fast vierundzwanzig!«
Der Fremde zog die geschwungenen schwarzen Brauen hoch. »Glückwunsch?«, spottete er.
»Was bedeutet, dass ich kein Bursche mehr bin.«
»Aha.« Der Fremde wandte sich zu Jason um und stützte sich dabei mit dem ganzen Gewicht auf seinen Stock, der noch einen Zoll tiefer im weichen Erdboden versank. »Ich bitte um Entschuldigung.«
Der Fremde verbeugte sich förmlich und zuckte kaum merklich mit den Schultern – was, wie Jason im Lichte der Nüchternheit leicht hätte erkennen können, an dem steifen Bein und am einsinkenden Stock lag. Aber unter den gegebenen Umständen stand für Jason eines sonnenklar fest: dass es sich um eine Geste der Verachtung handelte.
Das brachte, zusammen mit dem mitleidsvollen Blick,
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