Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
wichtiger Haltepunkt am Wege noch eine Poststation. Niemand kam hierher – niemand scherte sich um diesen Ort. Abgesehen von jenen, die allein sein wollten – wie eben jetzt Jason Cummings, der junge Marquis of Vessey. Das nackte Elend sprach aus seiner Miene und seiner Haltung, und er wollte nichts dringlicher, als dieses Elend vertreiben.
Wie hatte es so weit kommen können, dass er in der Wildnis des Lake District gelandet war? Warum wollte es ihm einfach nicht gelingen, seiner Schwester die Stirn zu bieten? Schließlich war er doch der Ältere! Er war fast vierundzwanzig, und noch immer beugte er sich Janes Willen. Das letzte Mal war er knapp entkommen. Und jetzt? Jetzt war er zurück und hatte mehr familiäre Verantwortung am Hals, als ein Gentleman seines Alters sie haben sollte. Er war durch Erpressung ins Exil gezwungen worden, weit fort von seinen Freunden und deren Unterstützung.
Verantwortung. Schon bei dem bloßen Gedanken graute es ihm. War es nicht das Vorrecht eines jungen Mannes, genau das zu tun, wonach ihm der Sinn stand? Seine Erfahrungen in der Welt zu machen? Und nun hockte er hier – und schaute stumm zu, wie das Elend seinen Lauf nahm.
Dabei war er überzeugt gewesen, das Richtige zu tun, als er darauf beharrt hatte, seinen Vater aufs Land zu bringen. Ob Jane dessen Krankheitssymptome nun übertrieben dargestellt hatte oder nicht (in der Tat hatte Jason kaum Anhaltspunkte entdecken können, die ihre Befürchtung bestätigten, dass die Vergesslichkeit des Dukes sich verschlimmert hatte), eines wusste Jason genau: Der Duke würde sich schämen, würde es seinen Freunden auffallen, dass er nicht mehr der Alte war. Denn der Duke war stolz – genau wie sein Sohn.
Jason stellte ein wenig überrascht fest, dass sein Glas bereits wieder leer war. Aber kaum hatte er die Hand gehoben, füllte Johnston auch schon wieder nach.
»Ausgezeichneter Service, guter Mann«, lobte Jason. »Erinnert mich an ein kleines Etablissement in Kopenhagen …« Aber der Wirt wandte sich weg, um dem einzigen weiteren Gast ebenfalls nachzuschenken. Es war ein Mann mit Spazierstock und schlicht gekleidet, dessen Miene sehr verschlossen wirkte. Er verzehrte eine Portion Bückling mit Eiern und trank sein Ale dazu.
Jason schüttelte die Kränkung ab – schließlich ging man nicht ins Oddsfellow Arms, um sich zu unterhalten –, und nahm seinen vorherigen Gedankengang wieder auf. Wo war er doch gleich stehen geblieben?
Ach ja.
Über eines bin ich froh, grübelte er mit einem Lächeln in seinen Mundwinkeln. Die Tatsache, Vater von London wegzubringen, bedeutet gleichzeitig, dass Jane in den Salons dort nicht mehr ein und aus geht. Jason liebte seine Schwester, ja, er liebte sie tatsächlich. Aber als man sie in ihrer ersten Saison auf die feine Gesellschaft losgelassen hatte, war es gewesen, als hätte man einer Katze eine Extraportion berauschender Katzenminze verabreicht. Und Jane London unsicher machen zu sehen, unbeaufsichtigt …
Ein Schauder rieselte ihm über den Rücken. Daraus hätte nichts Gutes erwachsen können.
Oh, um Himmels willen. Sein Glas war schon wieder leer.
Eine Pinte musste im Oddsfellow Arms weniger sein als auf dem Kontinent. Andererseits trank er im Ausland aber auch nie so schnell. Oder doch? Nun, er fühlte sich jedenfalls nicht so, als hätte er zwei volle Gläser geleert. Und nicht nur, dass die Gläser hier kleiner sind, stellte er düster fest, das Bier wird auch noch verwässert.
Finstere Empörung stieg in Jason auf. Er war der Marquis of Vessey, Sohn und Erbe des Dukes of Rayne. Hatte Johnston etwa die Absicht, ihn zu behumpsen? Oder hielt der Wirt ihn für so grün hinter den Ohren, dass er, Sohn eines Dukes, seinen Alkoholkonsum nicht im Griff hatte? Nun, darum musste er sich kümmern.
»Johnston!«, bellte Jason so aristokratisch wie nur möglich, »das Ale ist zu dünn. Geben Sie mir einen Whiskey.«
Die nächsten Stunden verliefen so vorhersehbar, wie es bei Stunden der Fall ist, die in einer Taverne verbracht werden. Der Inhaber und Braumeister, der sich beim Vorwurf, das Bier schmecke wässerig, kerzengerade aufgerichtet hatte, hatte dem jungen Lord daraufhin seinen besten Whisky serviert. Zumindest hatte er die Whiskyflasche hervorgeholt, die am meisten herzeigte. Johnston war rasch klar gewesen, dass der junge Lord sich mit Spirituosen nicht gut auskannte und daher annehmen würde, dass ein höherer Preis und eine aufwendigere Flasche auch eine bessere Qualität
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