Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
tastete seinen Oberkörper ab, befühlte seinen Schädel und konnte kein Blut entdecken, nachdem er mit den Fingern durch das rötliche Haar gefahren war. Auf dem Schlachtfeld war Dobbs immer schon für Notfälle zuständig gewesen.
Dann fuhr er mit seinen flinken Fingern in die Taschen des Burschen, holte aus ihnen aber nicht mehr heraus als das übliche kostspielige Zeug, das ein Londoner Gentleman bei sich trug.
Auch darin war Dobbs immer recht gründlich gewesen.
»Dobbs …«, sagte Byrne in warnendem Tonfall.
Der kleine Mann erwiderte den vorwurfsvollen Blick. »Ich suche doch nur nach einer Karte oder irgendeinem Stück Papier mit seinem Namen drauf.« Kaum hatte er zu Ende gesprochen, als er dem Burschen ein silbernes Kartenetui aus der Brusttasche zog. Er öffnete es, nahm eine makellos weiße Visitenkarte heraus und blinzelte, während er zu lesen versuchte. »Mar… Mark…«
Byrne nahm ihm die Karte aus der Hand. »Marquis of Vessey«, las er und warf die nunmehr verschmutzte Karte auf die hingestreckte Gestalt des Burschen.
»Ein Marquis?« Dobbs fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. »Verflucht.« Er unternahm den Versuch, den Burschen … äh, den Marquis auf seine Schultern zu hieven.
»Was zum Teufel machen Sie da?«
»Einen Marquis werde ich nicht im Matsch eines Kutschenhofes liegen lassen«, erwiderte Dobbs und kämpfte sich damit ab, den schweren schlaffen Körper des Marquis zu stützen.
»Warum denn das nicht, um alles in der Welt?«
»Sie haben doch gesehen, was er in den Taschen hatte! Der Kerl ist doch leichte Beute für alle möglichen Bösewichte, nicht nur für Straßenräuber.«
»Wohin können wir ihn bringen?«, fragte Byrne. »In mein Haus jedenfalls nicht. Was, wenn jemand nach ihm sucht? Ich möchte nicht für die Entführung eines Marquis verantwortlich gemacht werden.« Noch dazu eines, der betrunken und überaus lästig ist.
»Wer sollte nach ihm suchen? Hier in der Gegend gibt es keine Vesseys«, behauptete Dobbs und stellte den Mann schließlich halbwegs auf die Füße.
»Sehen Sie eine Kutsche oder ein Pferd?«, konterte Byrne, der natürlich genau wusste, dass der Hof bis auf sein eigenes Gefährt leer war. »Das heißt, er muss zu Fuß hergekommen sein. Und dass er irgendwo in der Nähe bei Freunden wohnt. Sollen die doch nach ihm suchen.« Byrne presste den Mund zu einem Strich zusammen, während er entschied, was unternommen werden sollte. »Wir werden den Wirtsleuten Bescheid sagen, damit sie ihn in einem ihrer Zimmer unterbringen.«
Dobbs kicherte und stolperte mit seiner Last vorwärts. »Haben Sie gesehen, wie der Kerl die Lady des Hauses mit Blicken verfolgt hat? Johnston wird ihn wieder genau dorthin befördern, wo wir ihn aufgelesen haben. Und falls der Kerl Freunde in der Gegend hat, werden die Johnstons sie auf Sie verweisen, und die werden dann kommen, um sich bei Ihnen zu bedanken .« Dobbs blieb stehen und schnappte nach Luft. Dann sah er Byrne an – mit genau dem spanielähnlichen Blick, mit dem er Byrne vor all den vielen Jahren dazu gebracht hatte, ihn anzuheuern. »Kommen Sie schon, Sir. Wir sind doch alle mal jung und dumm gewesen. Beweisen Sie, dass Sie ein Herz haben.«
Byrne seufzte und sah seinen Leibwächter und dessen matschbedeckte Bürde abschätzend an.
»Also gut«, sagte er und wandte sich zur Kutsche. Er zog sich auf den Tritt hinauf und warf über die Schulter einen Blick zurück. »Aber dann sorgen Sie auch dafür, dass die Polster wieder gereinigt werden.«
6
Nachdem Jason sich empfohlen hatte, brauchte Jane ungefähr fünf Minuten, um sich so weit zu beruhigen, dass sie die Gäste empfangen konnte.
Es war fast sieben Uhr abends, als der letzte von ihnen das Haus verließ. Als Jane beim Abendessen saß, kochte ihr Ärger erneut hoch.
Es war Punkt drei Uhr in der Nacht, als Janes Ärger sich in Sorge verwandelte.
Um zehn Uhr am nächsten Morgen waren die Bediensteten soeben dabei, das kaum angerührte Frühstücksbüfett fortzuräumen, als Jason ins Zimmer gestolpert kam. Er sah aus, als wäre er vom Reiterregiment Seiner Majestät niedergetrampelt worden. Als Jane ihn sah, verlor sie jegliche Contenance – was zum einen dem Schlafmangel und ihren angegriffenen Nerven geschuldet war, und zum anderen ihrer Angst, was alles ihrem Bruder zugestoßen sein könnte.
Sie fing an zu weinen.
»Wo bist du gewesen?«, heulte sie, und eine erschreckend große Menge Flüssigkeit quoll ihr aus den Augen. Erschütterung lag in
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