Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
praktizieren. Und selbstverständlich schließt dieses Vertrauen ein, dass er Stillschweigen bewahrt. Auch gegenüber den Leuten im Dorf.«
Nachdem der Arzt ihr eine riesige Last von den Schultern genommen hatte, begleitete Jane ihn zur Haustür, öffnete und reichte ihm die Hand.
»Ich möchte Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, Mylady. Ihr Vater ist krank. Sein Zustand wird sich wahrscheinlich weiter verschlimmern«, sagte er, als er ihre Hand losließ.
Sie lächelte ihn zum Abschied an. Kaum hatte sie die Tür hinter ihm geschlossen, gönnte Jane sich einen Moment. Sie lehnte sich an die Wand, schloss die Augen und atmete tief durch.
»Du hast dich wohl schon in ihn verguckt, oder?«, rief Jason vom oberen Absatz der breiten Treppe zu ihr hinunter.
Er hockt dort wie ein kleines Kind, das man aus dem Zimmer geschickt hat, dachte Jane und kniff eingedenk seiner verächtlichen Worte die Augen zusammen.
»Aber du hast einem Mann ja schon immer gern schöne Augen gemacht«, setzte er seine Tirade dreist fort. »Und das umso lieber, je tiefer er unter deinem Stand ist. Wer war er doch gleich … dein Musiklehrer, stimmt’s? Als du vierzehn warst?«
»Worüber ärgerst du dich, Jase? Über die Tatsache, dass der Mann gut aussieht? Oder dass er begabt und gut ausgebildet ist?« Falls er die Absicht hatte, sie zu provozieren, konnte sie den Spieß auch umdrehen und auf seine offenen Flanken zielen. Jason hatte sein Unvermögen, etwas zustande zu bringen, schon immer bedauert.
»Das spielt keine Rolle«, entgegnete er, »denn du wirst ihn dir in guter Erinnerung bewahren müssen. Wir fahren nach London zurück.«
»Du willst Vater wieder auf Reisen schicken?« Jane seufzte. »Hast du nicht gehört, was der Doktor gesagt hat? Über die Anstrengungen der Reise, die seinen Zustand noch weiter verschlimmern können?« Langsam stieg sie die Treppe hinauf und maß ihre Worte so genau ab wie ihre Schritte. »Es wäre alles andere als hilfreich, schon wieder auf Reisen zu gehen.«
»Das kümmert mich nicht«, brummte Jason bockig.
»Nun, ich weiß sehr wohl, dass dich der Tratsch stören würde, den wir unweigerlich auslösen, sollten wir jetzt nach London zurückkehren.«
»Ich dachte, du willst zurück. Ich dachte, hier ist dir alles verhasst«, erwiderte Jason. »Du wolltest doch, dass Vater die besten Ärzte bekommt. Und du wolltest doch näher bei deinen Freunden sein, um die Nächte durchzutanzen.«
Einen Moment lang dachte Jane an London. An all die Doktoren, die dagesessen hatten mit ihren Perücken und ihren Instrumenten und die sie so sehr enttäuscht hatten, dass sie hatte weinen müssen. Sie dachte an die Menschen, die sie zurückgelassen hatte. Es waren genau genommen keine Freunde, außer einigen wenigen vielleicht. Es waren vielmehr Leute, die sie anlächeln und denen sie schmeicheln musste, mit denen sie lachen und tanzen musste, für die sie herumstolzieren und quirlig sein musste … Leute, für die sie die scharfzüngige, gehässige, verwegene, nie um eine Antwort verlegene Lady Jane Cummings geben musste.
Und dann dachte sie an all die Menschen, die gestern bei ihr gewesen waren und die sich ausnahmslos an ihre Eskapaden als Fünfjährige erinnerten und die alle hofften, dass sie ihre Besuche erwidern würde – lange, zähe Stunden in langer, zäher, aber unglaublich freundlicher Gesellschaft. Dann dachte sie an Dr. Berridge – ja, zugegeben, er praktizierte auf dem Land und man mochte seine Praxis für provinziell halten, doch sein Denken war das keinesfalls. Und dann glitten ihre Gedanken unbegreiflicherweise zurück zum Vormittag, zu dieser merkwürdigsten aller Unterhaltungen mit dem nur halb bekleideten Mann am See, und für einen Augenblick tauchte Jane wieder ganz in ihr junges, sorgloses Selbst ein.
Und alles fiel von ihr ab: die Erwartungen, die man an sie hatte, die Rolle, die sie ausfüllen und spielen sollte.
Sie setzte sich neben ihren Bruder auf die Treppenstufe.
»Als du dich nach Mutters Tod in deine Abenteuer geflüchtet hast«, sagte sie leise, »hielt ich es für das Schlimmste überhaupt, mir selbst überlassen zu bleiben. Aber dann fing Vater an … nachzulassen, und ich begriff, dass ich mich geirrt hatte. Was mir die größte Angst eingejagt hat, war die Erkenntnis, dass ich diejenige war, die in die Pflicht genommen wurde.«
Jason blickte sie verstört an. »Was meinst du damit?«
»Jason, ich bin erschöpft«, sagte sie.
»Gute Güte, das bin ich auch«,
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