Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
noch die Spuren der vergangenen Nacht. Aber immerhin war er jetzt hellwach.
»Ist das jetzt sein Zustand?«, fragte Jason in die Stille hinein. Er klang betroffen.
»Ja, das ist jetzt sein Zustand«, bestätigte Jane sachlich.
Jason hüllte sich wieder in Schweigen und schaute unablässig aus dem Fenster.
»Wie viele Ärzte haben ihn in London untersucht?«, wollte er nach einer Weile wissen.
»So gut wie jeder«, seufzte Jane. »Und alle haben gesagt, dass sie nichts tun können.«
»Wir sollten uns anhören, was Dr. Lawford zu sagen hat«, sagte Jason entschlossen. Er hatte das Kinn vorgestreckt, seine Haltung wirkte wie die eines trotzigen Jungen.
Jane glaubte nicht, dass ein Landarzt mehr zum Zustand ihres Vaters sagen konnte als ein Dutzend der besten Ärzte Londons, aber sie wollte Jason nicht die Hoffnung rauben. Schließlich hatte sie die gleichen Gefühle durchlebt und die gleichen Gedanken gehabt wie er jetzt. Sie würde einfach abwarten müssen, denn Jason würde einige Zeit brauchen, um zu der gleichen Einsicht zu kommen wie sie.
Überraschenderweise war es aber nicht Dr. Lawford, der aus der Kutsche stieg, sondern ein erschreckend junger Mann namens Dr. Andrew Berridge.
Trotz seiner noch jungen Jahre erwies Dr. Berridge sich als überaus kompetent. Er trug eine Salbe auf die verbrühten Hände des Dukes auf, verband sie anschließend und nahm sich dann eine gute Stunde Zeit, ihn von Kopf bis Fuß zu untersuchen. Nancy war ständig an seiner Seite und achtete darauf, dass der Duke sich während der Untersuchung wohlfühlte und sich nicht aufregte.
Jane wartete im Wohnzimmer darauf, dass der hochgewachsene, freundliche Arzt zu ihr kam und mit ihr sprach – und sie sorgte dafür, dass Jason bei ihr blieb und nicht die Flucht ergriff. Sie sah ihm an, dass er genau das am liebsten getan hätte.
Ein Diener führte den Arzt schließlich ins Wohnzimmer. Jane läutete nach Tee, auch wenn sie bezweifelte, dass einem von ihnen jetzt der Sinn danach stand.
Kaum hatte ein Hausmädchen den Tee gebracht und war wieder gegangen, ergriff Dr. Berridge das Wort. »Abgesehen von den Verbrühungen an seinen Händen fehlt Ihrem Vater in körperlicher Hinsicht nichts. Seine Muskulatur ist kräftig, der Blick ist klar.«
Sowohl Jane als auch Jason schwiegen; Dr. Berridge deutete das Schweigen als Zeichen, dass er fortfahren solle. »Es ist aber auch nicht der körperliche Zustand, der Ihnen Sorgen bereitet.«
Jane nickte. Jason fing an, vor den hohen Fenstern, durch die die helle Nachmittagssonne hereinschien, hin und her zu gehen. Der Blick des Arztes folgte Jasons Bewegungen einen kurzen Moment, ehe er ihn wieder Jane zuwandte.
Sie räusperte sich und erzählte dem jungen Doktor die ganze Geschichte. Wie das Gedächtnis ihres Vaters plötzlich schlechter geworden war, was anfangs nicht unbedingt beunruhigend gewesen sei. Man habe es auf sein Alter und das erfüllte Leben geschoben, das er geführt hatte. Aber dann, nach dem Tod ihrer Mutter, seien diese Erinnerungslücken immer öfter aufgetreten.
»Und wie ist es mit Ihnen, Mylord?«, fragte Dr. Berridge und unterbrach Jasons Marsch. »Ist Ihnen nach dem Tod Ihrer Mutter auch aufgefallen, dass sein Verfall fortschreitet?«
Jason verschränkte die Arme und lehnte sich gegen das Fenster. Seine Bewegungen waren so bedachtsam und so kalt wie seine Worte. »Ich stimme der Einschätzung meiner Schwester zu.«
Der junge Arzt hielt Jasons Blick einen Moment lang fest. Es schien, als unterzöge er ihn einer Prüfung. Dann war dieser Moment vorüber, und Dr. Berridge richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Problem, mit dem sie es zu tun hatten. »Ich habe die Gelegenheit genutzt, mit Ihrer Krankenschwester zu sprechen. Sie kennt sich bemerkenswert gut aus. Seinen letzten Schub führt sie auf die Anstrengungen der Reise zurück. Würden Sie sagen, dass seine …«
»… seine Anfälle«, warf Jane ein.
»… seine Anfälle auf eine gesteigerte Ängstlichkeit zurückzuführen sind?«
»Manchmal schon«, erwiderte Jane. »Aber manches Mal scheint es durchaus auch so zu sein, dass er Anfälle hat, wenn er ruhig ist.«
»Das ist ja alles verdammt gut und schön, Sir«, mischte Jason sich ein, »aber können Sie für den Mann auch irgendetwas tun ?«
Bei den harschen Worten ihres Bruders errötete Jane, konnte sich aber beherrschen, ihn zu ermahnen. Auch sie hatte sich zu Beginn der Krankheit ihres Vaters frustriert gefühlt. Und fühlte sich häufig immer noch
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