Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
er einen solchen Berg zweimal täglich hinauf- und hinuntergerannt, nur um der Erste zu sein, der die Morgensonne begrüßt, und der Letzte, der sie abends verabschiedet.
Es fehlte ihm, der zu sein, der er einst gewesen war.
Aber, dachte Byrne und schüttelte die bedrückte Stimmung ab – heute habe ich einen guten Tag. Er war schwimmen gewesen, um Körper und Geist zu beleben, und er durfte nicht zulassen, dass die Trauer um den Mann, der er einst gewesen war, ihm das wieder nahm.
Es mochte sein, dass er seine frühere Beweglichkeit eingebüßt hatte. Aber im Großen und Ganzen ging es ihm schon wieder recht gut, wie er sich sagen konnte, als er in der Nachmittagssonne einen felsigen Weg entlangging, der durch eine kleine Senke führte. Moosbedeckte Bäume spendeten Schatten, und ein kleiner Bach plätscherte über flachgeschliffene Steine. Auf einem davon ließ Byrne sich nieder und gönnte sich einen Augenblick des Träumens auf dieser von Mutter Natur bereitgestellten Ruhebank.
Natürlich hörte er ihre Schritte, als sie näher kam.
»Ich frage mich, ob Sie diesen Weg auch hätten bewältigen können, bevor Sie mit Ihren morgendlichen Schwimmübungen angefangen haben«, ertönte ihre vorlaute Frage hinter ihm.
Offen gesagt klang die Stimme nicht melodisch – sie war etwas zu tief, etwas zu rau und eine Spur zu heiser – aber es war unverwechselbar die Lady Janes.
Eigentlich hatte sie nicht die Absicht gehabt, zum Haus von Mr Worth zu gehen. Nein, wirklich nicht. Genau genommen hatte sie den Weg entlang des Seeufers, der direkt zu seinem Haus führte, sogar geflissentlich gemieden. Weil sie ihre Gedanken ordnen wollte, war sie nach der Fahrt ins Dorf nicht ins Cottage zurückgekehrt, sondern hatte Jason – dessen Anwesenheit in der Kutsche ihre Gedanken förmlich erstickt hatte – mitgeteilt, dass sie an die frische Luft wollte, um Appetit für das Abendessen zu bekommen. Er hatte lediglich zustimmend gebrummt und war ins Haus gegangen.
Jane hatte sich für den Weg entschieden, der sie durch einen kleinen Kiefernwald zu einem ihrer Lieblingsplätze führen würde. Dort gab es am Ufer eines Baches einen alten Baumstumpf und einen großen flachen Stein, der um diese Zeit des Nachmittags von der Sonne gewärmt wurde. Nein, sie hatte kein Interesse daran, Mr Byrne Worth heute zu begegnen.
Auch wenn ihre Gedanken sich zum größten Teil nur um ihn drehten.
Das Schicksal wollte es, dass sie ihn an ebendiesem Platz antraf. Er saß auf dem besagtem großen, flachen Stein am Bachufer. Was es nicht verhindern konnte, war, impertinente Fragen zu stellen.
»Ich frage mich, ob Sie diesen Weg auch hätten bewältigen können, bevor Sie mit Ihren morgendlichen Schwimmübungen angefangen haben«, rief sie ihm zu und musste ungewollt lächeln.
»Fragen Sie sich das jetzt immer noch?«, rief er zurück, drehte sich aber nicht um, was Jane als Erlaubnis deutete, näher kommen zu dürfen.
»Ja«, erwiderte sie und erreichte den Sitzstein, nachdem sie den steinigen Boden flink überquert hatte. Byrne gab ihr mit einem Nicken zu verstehen, dass sie sich setzen dürfe. »Und natürlich würde ich gern wissen, was jemand, der Dr. Lawfords Rat, sein lahmes Bein durch Schwimmen zu kräftigen, entrüstet zurückgewiesen hat, an einem See wie dem Merrymere zu suchen hat.«
Jane sah, wie seine Mundwinkel zuckten. »Hatten Sie einen schönen Tag im Dorf, Lady Jane?«
Es war anstrengend gewesen. »Es war zauberhaft«, erwiderte sie fröhlich. »Gehen Sie eigentlich jemals ins Dorf, Mr Worth?«
»Nicht sehr oft.«
»Woher wissen Sie dann, dass ich heute dort war?«
»Weil es in den letzten zwei Tagen geregnet hat – und Sie plötzlich voller Klatsch und Tratsch stecken.« Ehe sie antworten konnte, fuhr er fort. »Und dabei handelt es sich um Klatsch, den Sie gewiss erwähnt hätten, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Sofern Sie Bescheid gewusst hätten.«
Jane lächelte und legte den Kopf in den Nacken, um sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. »Gut kombiniert, Mr Worth. Kein Wunder, dass Sie für den König und unser Land so wertvoll waren.«
Sie fragte sich, ob er es wohl abstreiten würde. Sie fragte sich, ob er sich danach erkundigen würde, woher sie es wusste. Natürlich hatte es ihr niemand erzählt. Das wäre Verrat der Geheimnisse des Landes gewesen. Aber nachdem so ungewöhnliche Umstände sie und Mr Worth und dessen Bruder Marcus zusammengeführt hatten, war es ihr gelungen, selbst diese
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