Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
Aussetzen meines Urteilsvermögens jetzt auch nicht mehr erklären.«
»Dass Sie die Frau des Rektors angeknurrt haben?«
Er schüttelte den Kopf. »Dass ich Ihrem Bruder geholfen habe. Das sieht mir ganz und gar nicht ähnlich.«
Sie lachte laut auf. »Wissen Sie, was ich abgesehen von verschwendeter Wohltätigkeit merkwürdig finde? Dass jemand, der nachträglich den Rat des Arztes annimmt und der zu Fremden freundlich ist, so verabscheut wird, dass das gesamte Dorf Reston ihn für einen Straßenräuber hält, der Reisende ausraubt.«
Damit war Byrne zum Schweigen gebracht. Er war noch schweigsamer als ohnehin schon üblich; diesmal allerdings, da war Jane sich ganz sicher, lag es am puren Schock.
»So denken die Leute also über mich?«, fragte er, nachdem er die Sprache wiedergefunden hatte. Jane nickte ernst. »Nun, das erklärt vieles.«
»Zum Beispiel …«, hakte sie nach.
»Zum Beispiel, warum niemand im Dorf mir in die Augen sieht. Oder im Oddsfellow Arms.«
»Ich habe meine Zweifel, dass es hilft, die Frau des Pfarrers anzuknurren.«
»Sie hat versucht, mich in die Kirche zu zerren«, verteidigte sich Byrne. »Und das sehr vehement. Sie hat mir meinen Stock weggenommen, weil sie überzeugt war, dass ein klein wenig Religion mich retten würde.«
»Und warum sind Sie zu Lady Wilton so unhöflich gewesen, als sie Ihnen einen Willkommenskorb wie diesen hier gebracht hat?«, konterte Jane.
Byrne warf ihr einen Blick zu, der so sarkastisch wirkte, dass sich ihr das Geschehen erklärte.
»Mir scheint, Sie leiden unter einem extremen Fall von erstem Eindruck«, erwiderte Jane.
»Und woher wollen Sie das nun wieder wissen?«
»Oh, ich weiß, dass man in Reston in den ersten Eindruck geradezu vernarrt ist. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viele Male ich in der vergangenen Woche daran erinnert worden bin, dass ich im Alter von fünf Jahren splitterfasernackt über den Dorfplatz gerannt bin.« Sie hielt inne und zeichnete mit der Fingerspitze eine Kerbe im Stein nach, die zwischen ihnen verlief. »Es scheint, als sollte ich für das Dorf bis in alle Ewigkeit dieses kleine Mädchen bleiben. Darüber hinaus erwartet man von mir, dass ich wie meine Mutter bin«, schloss sie ein wenig traurig.
Sie wartete darauf, dass er etwas sagte. Irgendeinen schlichten Satz, der der Höflichkeit Genüge tat, und sie ermunterte, seine Neugier zu befriedigen. Aber dieser Satz kam nicht. Er schwieg und beugte sich ihr kaum merklich näher. Seine große, warme Gestalt wirkte ungemein tröstlich. Jane lehnte sich an ihn und ließ zu, dass sein grimmiges Schweigen sie einhüllte, sein Mitgefühl, kein sinnloses Mitleid.
Jane kam ihm so nahe, dass ihr Arm seinen streifte; es war diese Berührung, die sie wie elektrisiert aus ihrer Träumerei riss.
»Aber«, sagte sie eine Spur zu fröhlich, um ihre Reaktion auf diese Berührung zu verbergen, »ich finde ein wenig Trost darin, dass Ihr Fall schwieriger ist als meiner.«
»Tatsächlich?«, hakte er nach und richtete sich wieder auf.
Jane holte tief Luft und stürzte sich auf den Gedanken, der ihr gerade durch den Kopf gegangen war – ein Gedanke, den selbst nachsichtigste Richter als impulsiv und gewagt einschätzen würden, der aber dennoch nicht geleugnet werden konnte. »Ja, denn ich kann mein Schicksal als nacktes Kind oder als wohlgeborene Lady gut ertragen. Sie hingegen sind aus der Gesellschaft verbannt. Falls Sie deren Gnade wiedererlangen und vergessen machen wollen, dass Sie ein knurriger Eremit sind, müssen wir drastische Maßnahmen ergreifen.«
»Ich werde den Leuten nicht erzählen, wer ich während des letzten Krieges gewesen bin«, sagte er und spannte sich an.
»Das wollte ich auch gar nicht vorschlagen«, erwiderte Jane ohne zu zögern. »Obwohl sich deren Meinung über sie garantiert auf Anhieb ins Gegenteil verwandeln würde. Allerdings habe ich meine Zweifel, dass Sie sich danach jemals wieder einer Privatsphäre erfreuen könnten. Neugierige würden Ihr kleines Häuschen umschwärmen. Die Männer würden behaupten, mit Ihnen befreundet zu sein, und sämtliche Frauen …« Sie ließ die Worte verklingen und errötete leicht.
»… sämtliche Frauen …?«, drängte er.
»Nun … Blue Raven … äh, nun, er genießt einen gewissen Ruf, was Frauen betrifft.«
Byrne ließ den Blick über sie gleiten, während sie sich so klein wie möglich machte. Oh du liebe Güte, wie hatte sie das nur sagen können?
»Es ist aber auch denkbar«, spottete er
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