Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
Rücken drehte. Obwohl es viel zu sehr die Aufmerksamkeit der Gäste in der Halle erregte, drückte er den Mann mit dem Gesicht gegen die Kammertür.
»Um Himmels willen, Jason«, schrie Jane, als der Mann sich unter Marcus Worths eisenhartem Griff wand, »bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?«
»Ich darf annehmen, es handelt sich um den Mann, dem Sie keinesfalls begegnen wollten?«, sagte Marcus.
»Ja … Mr Worth … es tut mir …«
»Verdammt, Jane, halt den Mund«, spie Jason förmlich aus und fügte in Richtung Marcus hinzu: »Und jetzt zu Ihnen. Was zum Teufel haben Sie in der Kammer mit meiner Schwester gemacht?«
2
»Hast du völlig den Verstand verloren, als du auf dem Kontinent warst?«
Wütend betrat Jane das Haus der Raynes am Grosvenor Square. Ihre Worte hallten von dem kalten Marmor und den golden gestrichenen Zierleisten des großen Foyers wider. Jason folgte ihr, nachdem er Hut und Umhang in die Hände des wartenden sehr alten und sehr ernsten Butlers geschleudert hatte.
»Ich bin vielmehr überzeugt, dass ich die einzige Person in dieser Familie bin, die sich noch ihrer geistigen Gesundheit erfreut«, erwiderte er.
Jane riss den Kopf hoch und hörte auf sich abzumühen, die Bänder ihres Umhangs zu lösen. Zwei zornige rote Flecken überfluteten ihre Wangen. »Das nimmst du zurück«, stieß sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
Mit nur drei Schritten war Jason bei ihr. »Habe ich nicht ausdrücklich gesagt, dass du in der Burg bleiben sollst? Bei meiner Rückkehr wollten wir gemeinsam entscheiden, was zu tun ist.«
»Bei deiner Rückkehr?«, kreischte Jane. »Ich habe ein ganzes verdammtes Jahr lang gewartet, aber du bist nicht zurückgekehrt! Hast du wirklich erwartet, dass ich in diesem zugigen alten Gemäuer hocken bleibe, während du dich mit deinen Freunden irgendwo herumtreibst? Nein, vielen Dank.«
Jason war so gnädig, sich unter seinen Sommersprossen leicht rosa zu verfärben. »Ich habe mich nicht herumgetrieben . Ich hatte eine Menge Forschungsaufgaben zu erledigen. Wenn Mutter noch am Leben wäre, sie hätte es verstanden.«
Nur die Tatsache, dass ihre Finger sich in den Bändern des Umhangs verfangen hatten, hielt Jane davon ab, ihrem Bruder eine Ohrfeige zu verpassen. »Mutter vielleicht«, entgegnete sie steif. »Aber Vater auf keinen Fall.«
Nach der Beerdigung vor über einem Jahr waren nur sie drei zurückgeblieben. Ihre Mutter, die fürsorgliche, anpackende und geliebte Duchess of Rayne, war nach einer plötzlichen Erkrankung, auf die ein langes Leiden gefolgt war, verstorben. Das Herz, hatten die Ärzte gesagt. Die nervösen Zuckungen, die immer über sie gekommen waren, wenn sie erschöpft war, hatten sich als bedrohlich ernst herausgestellt und die Duchess viel zu früh ihrer Familie entrissen.
Sie hatten sich auf einer kurze Reise aufs Land nach Crow Castle befunden, dem Ahnensitz des Dukes of Rayne, als ihre Mutter zum ersten Mal krank geworden war. Die Burg verdankte ihren Namen nicht nur der Krähe als dem Wappentier der Raynes, sondern auch deren lebenden Artgenossen, die sich irgendwann im vierzehnten Jahrhundert im Nordturm eingenistet hatten. In der dunklen, kalten Erde des Friedhofs von Crow Castle war die Duchess dann auch nach ihrem Ableben bestattet worden. Jetzt ruhte sie neben den toten Dukes und Duchesses der Familie, die unter den geraden Reihen zerfallender Grabsteine begraben lagen. Der Erdhügel auf ihrem Grab ist viel zu schwarz, hatte Jane gedacht, und der Marmor ihrer Grabplatte viel zu schwer. Wie konnte es sein, dass ihre Mutter hier war, auf diesem kalten, stillen Friedhof? Ihre Mutter war immer so heiter und fröhlich gewesen … nein, sie lag jetzt nicht stumm in dieser kalten Erde! Sie lebte! Sie bewegte sich, und sie sprach mit ihr!
Jane hatte den Verlust ihrer Mutter kaum begriffen – hatte kaum Zeit gehabt, ihre Garderobe für das Trauerjahr tintenschwarz zu färben –, als Jason ankündigte, dass er beabsichtigte, seine Kavalierstour durch Europa zum Abschluss zu bringen … sofort.
»Du kannst doch jetzt nicht abreisen!«, hatte Jane gerufen und sich das alte Wolltuch fester um die Schultern gelegt. Schon seit Langem war es zugig in der Burg. Selbst angesichts der gemäßigteren Winde in den südlichen Grafschaften hatte sie daher immer genügend Tücher vorrätig.
»Es muss sein«, hatte Jason geantwortet, während er die Unterlagen auf seinem Schreibtisch in dicke, lederne Ordner einsortierte. Hinter ihm
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