Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
nicht sagen dürfen. Aber du kannst doch sowieso nicht nach London gehen. Die Familie des Dukes of Rayne trauert auf ihrem Familiensitz. So ist es immer gewesen.«
»Die Familie … das bist auch du!«, schniefte Jane.
»Ich bin in kürzester Zeit wieder zurück«, versprach er und knuffte seine Schwester liebevoll in die Schulter. »Und falls Vaters … Problem bei meiner Rückkehr immer noch nicht geklärt ist, dann können wir uns überlegen, was zu tun ist. Aber bis es so weit ist, musst du hierbleiben und dich um ihn kümmern.« Jason legte ihr die Hände auf die Schultern und warf ihr einen durchdringenden Blick zu, so, wie er es immer getan hatte, als sie noch Kinder gewesen waren und er ihr das Versprechen abringen wollte, ihrer Gouvernante nichts von dem Frosch auf deren Stuhl zu verraten. »Jane … du und ich, wir halten doch zusammen. Und zusammen stehen wir das auch durch.«
Und so hatte sie genickt und sich gefügt und ihrem Bruder am nächsten Tag am Burgtor zum Abschied gewinkt. Und gewartet.
Und gewartet.
Es dauerte nicht lange, bis Jasons Briefe nach Hause nur mehr recht oberflächlich klangen. Und bald kamen überhaupt keine mehr.
Was Jane allerdings nicht beunruhigte – schließlich kannte sie ihren Bruder. Er mochte für sich in Anspruch nehmen, ja sogar beabsichtigt haben, sich aus nobleren Gründen im Ausland aufzuhalten, aber die Annehmlichkeiten des Kontinents würden immer schwerer wiegen als diese Tugenden. Außerdem erreichten ihn ihre Briefe (zumindest kamen sie nicht als unzustellbar zurück); daraus schloss sie, dass es ihm immerhin gut genug ging, den Empfang quittieren zu können. Nein, Jane machte sich darüber ebenso wenig Sorgen, wie man sich Gedanken um … versalzenes Fleisch machte: Es war zwar ärgerlich, aber es löste keinen tief greifenden Konflikt aus. Wir alle haben unsere eigene Art, zu trauern, dachte sie großmütig, Jason wird bald wieder zu Hause sein.
Schließlich hatte er es versprochen.
Eigentlich war Jane – die sich nicht eingestehen wollte, wie einsam sie sich fühlte – der Meinung, dass die Abwesenheit ihres Bruders von den übrigen Hausbewohnern gar nicht bemerkt wurde. Falls die Dienerschaft, die schon ihr ganzes Leben lang im Hause arbeitete, die Sache überhaupt ansprach, dann jedenfalls nicht ihr gegenüber. Und ihr Vater … die Trauer um seine Frau war so groß, dass sie jede mögliche Enttäuschung über seinen Sohn in den Schatten stellte. Nein, Jasons Abwesenheit bemerkte er gar nicht.
Dachte sie jedenfalls.
An einem regnerischen Morgen kurz nach Weihnachten kam Jane die Treppe herunter und wickelte sich dabei ihr Tuch fester um die Schultern. Im Sommer und im Herbst hätten die Leute kondoliert – die Pächter, die Nachbarn. Aber da nun einmal Winter war, blieb jeder zu Hause. Welchen Trost die ländliche Einsamkeit auch immer hätte bieten können, an Jane war er verschwendet. Sie sehnte sich nach London, um dort die Zwischensaison verbringen zu können, um Leute zu sehen und gesehen zu werden – um nicht hier alleingelassen und vergessen zu werden. Aber Gedanken wie diese schob sie beiseite, denn es war selbstsüchtig, sich dem Jammer zu überlassen. Ganz besonders dann, wenn sie ihren Vater zu ihrer Gesellschaft hatte und er sie. Aber als sie sich an jenem Morgen zum Frühstück an den Tisch setzte, hatte sie vergeblich auf ihren Vater gewartet.
Besorgt suchte sie nach ihm und fand ihn an der geöffneten Eingangstür, wo er auf den Hausdiener wartete, den er nach der Post geschickt hatte.
»Jason muss uns in Kürze einen Brief senden, meine Liebe«, hatte er gesagt. Im gefrierenden Regen, der sowohl den Duke als auch den Orientteppich im Foyer durchnässte, sah sein Atem aus wie eine scharfe Frostsichel.
»Seit dem letzten Brief sind doch erst ein paar Wochen vergangen«, sagte Jane besänftigend. »Wir können nicht erwarten, dass er jeden Tag schreibt.« Obwohl auch Jane auf eine etwas höhere Frequenz gehofft hatte. »Komm weg von der Tür, draußen ist es nass und schrecklich ungemütlich.«
»Es sind schon fünf Wochen. Fünf!«, konterte der Duke. Jane war überrascht, dass er mitgezählt hatte.
»Bei solchem Wetter kommt die Post doch nie pünktlich«, wandte sie ein, aber er schüttelte vehement den Kopf.
»Ich habe verlangt, dass er jede Woche schreibt, meine Liebe. Wenn er die Absicht hat, den ersten Versuch in Oxford zu wagen, dann müssen seine Noten in Eton tadellos sein! Ich brauche regelmäßige Berichte von
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