Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
dürfte!«, sagte sie und griff nach dem Buch ganz oben auf dem Stapel.
»Es kann doch nicht sein, dass du die Bibliothek in eurem Cottage bereits durchgelesen hast.« Victoria setzte einen wissenden Blick auf und schloss leise die Tür. »Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass …«, sie schaute auf den Titel, »… Fürstlicher Lohn des Lasters unbedingt deinen Geschmack trifft.«
»Du lieber Himmel!« Jane schnappte nach Luft und ließ das Buch fallen. Die beiden Frauen starrten es an, als es unschuldig auf dem Boden lag. »Warum um alles in der Welt befindet sich so etwas im Amtszimmer deines Vaters?«
»Es sind Beweisstücke … ich glaube, Mr Frederickson hat sie zufällig mit einer Lieferung erhalten und sofort hierhergebracht. Jetzt wird in den Verlagshäusern von Ambleside nach den Schmugglern solcher Machwerke gesucht.« Schulterzuckend legte Victoria das Buch auf den Stapel zurück.
»Ist denn noch niemand verhaftet worden?«, fragte Jane, aber Victoria zuckte erneut die Schultern, als wollte sie sagen, dass die Chancen, jemanden dingfest zu machen, praktisch bei null lagen.
»Nun, dann sollte er die Sachen aber nicht in der Nähe von Kindern herumliegen lassen!«, bemängelte Jane.
»Richtig. Aber außer Vater betritt niemand diesen Raum. Aber genug davon. Ich nehme an, dass du an etwas anderem viel mehr interessiert bist, stimmt’s?«
Jane lächelte. »Seit wann bist du so scharfsinnig?«
»Ungefähr seit der Zeit, als du angefangen hast, so unglaublich geschniegelt herumzulaufen«, erwiderte Victoria schlagfertig. »Wonach suchst du, Lady Jane, und wie kann ich dir behilflich sein?«
Jane betrachtete Victorias eifriges Gesicht; offenbar war sie zu jeder Schandtat bereit. Mit genau diesem Gesichtsausdruck war Victoria ihr während vieler Sommer gefolgt, hatte wie ein Welpe verzweifelt um Aufmerksamkeit und Freundschaft gebettelt. Aber irgendetwas an ihr war jetzt anders. Oder lag es einfach nur daran, dass Jane glücklich war, eine Mitverschwörerin zu haben?
»Ich hatte gehofft, mir das Amtsbuch deines Vaters ausleihen zu können. Ich nehme doch an, dass er eines führt und dass er es hier aufbewahrt. Ich würde es unbeschädigt zurückbringen. Niemand würde etwas merken«, sagte Jane leise.
»Ja, ganz bestimmt führt er eines, wahrscheinlich sogar mehrere … und er bewahrt sie hier auf«, erwiderte Victoria und ließ den Blick über die Regale schweifen.
Jane zögerte kurz. Victorias Unterstützung würde sich als vorteilhaft erweisen, aber ebenso sicher war, dass ihr Vater es nicht schätzen würde, wenn sie in seinen Sachen herumwühlte. Es wäre ihr unerträglich, geriete das Mädchen in Schwierigkeiten; ganz zu schweigen davon, dass es ihr gesamtes Unternehmen gefährden würde, wenn man sie entdeckte. »Möchtest du nicht doch lieber zu den anderen gehen? Die Jungs könnten deine Hilfe gut gebrauchen.«
Für einen kurzen Moment huschte ein besorgter Ausdruck über Victorias junges Gesicht. »Nein, es passiert ihnen nichts. Außerdem sind doch der Marquis und Penelope da … Ich bin sicher, dass sie alles im Griff haben.«
Jane biss sich auf die Lippen. »Victoria, ich muss dich mal etwas fragen … du hast dich zu einer zauberhaften jungen Lady entwickelt. Und um es ohne Umschweife zu sagen: Mein Bruder ist ein Idiot. Ich verstehe nicht …«
»Warum ich in ihn verliebt bin?«
Jane wurde blass, wahrte aber die Miene freundschaftlicher Sorge. Liebe? Grundgütiger!
Victoria lächelte wehmütig. »Erinnerst du dich noch an den Sommer, als ich neun oder zehn war? Du musst ungefähr zwölf gewesen sein, und wir sind immer noch zusammen umhergerannt, mit aufgeschlagenen Knien und Löchern in unseren Strümpfen.«
Jane nickte. Es fiel ihr nicht schwer, sich an den Sommer zu erinnern, bevor sie in Mrs Humphrey’s School for Elegant Ladies zurückgekehrt war und die Natur das sommersprossige, dürre Ding, das sie gewesen war, in eine elegante Lady verwandelte. Als sie im nächsten Sommer nach Reston zurückkehrte, war sie viel zu erwachsen gewesen, um noch auf Apfelbäume zu klettern – oder für kleine Spielkameradinnen wie Victoria.
»Nun, eines Tages, als du mit Witwe Lowe Tee getrunken hast, war ich im Dorf und habe einige Dinge für Mutter besorgt. Dabei wäre ich um ein Haar von einem Ochsenkarren überrollt worden. Es ist nicht viel passiert«, ergänzte sie hastig, »aber ich war gestürzt und hatte mir die Nase blutig geschlagen.«
Victorias Augen wurden ein wenig
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