Der Sommer der Lady Jane (German Edition)
feucht, als sie sich erinnerte. Jane konnte nicht anders, als ihre Suche nach dem Buch abzubrechen und zuzuhören. »Zufällig kamen meine Schwester und der Marquis vorbei. Er hat mir sein Taschentuch gegeben. Stell dir vor, weichstes Leinen, mit einem Silberfaden durchwirkt und mit seinem Monogramm! Es war das Schönste, was ich je gesehen hatte. Aber er hatte nichts anderes im Sinn, als das Blut zu stillen, das mir aus der Nase quoll.«
Jane war nicht so herzlos, ihr zu verraten, dass die Initialen auf allen ihren gewöhnlichen Taschentüchern mit Silberfäden eingestickt waren – das bessere Leinen war mit Gold durchwirkt. Es kam noch hinzu, dass Jason mit seinen Sachen ziemlich nachlässig umging … aber das brauchte Victoria nicht zu erfahren.
»Und als Penelope sich wegen der Verletzung so zimperlich angestellt hat, hat er sich neben mich gesetzt und ist bei mir geblieben, während sie zum Doktor gerannt ist. Er hat mir Witze erzählt. Und das war der Moment, in dem ich mich in ihn verliebt habe.«
Jane seufzte. In dem einzigen Augenblick, in dem ihr Bruder je wahre Ritterlichkeit bewiesen hatte, musste er natürlich das Herz eines armen jungen Mädchens in den Bann schlagen.
»Eine Woche lang hatte ich ein blaues Auge«, fuhr Victoria fort, die ganz in ihre Erinnerung vertieft schien.
»Daran kann ich mich auch noch erinnern. Du hast jeden Besuch abgelehnt. Ich habe erst davon erfahren, als ich dich in der Kirche gesehen habe.«
Victoria nickte. »Aber Jas… äh, der Marquis ist vorbeigekommen. Selbstverständlich nicht nur, um mich zu sehen, aber zweimal in der Woche hat er seinen Kopf durch die Tür gesteckt und gesagt, dass ich gut aussehe.« Sie lachte. »Kannst du dir das vorstellen? Er war der Meinung, dass ich gut aussehe, sogar mit einem blauen Auge.«
»Aber das ist Jahre her«, wandte Jane vorsichtig ein und richtete ihren Blick auf das Regal.
»Ich weiß. Aber er ist so wundervoll« – Jane unterdrückte ein Schnauben –, »dass meine Liebe nicht schwächer geworden ist. Im Gegenteil, während der langen Abwesenheit deiner Familie ist sie sogar noch stärker geworden.«
Ach herrje. Jane hatte natürlich gewusst, dass Victoria für Jason schwärmte, und dass er ihre Gefühle nicht erwiderte. Bedachte man den Mangel an attraktiven jungen Männern in Reston, war nichts anderes zu erwarten gewesen, als dass ein Marquis das Herz eines jungen Mädchens im Handumdrehen erobern würde. (Jane hatte die Töchter der Morgans gesehen, die kaum älter als dreizehn sein mochten und Jason auf dessen Spaziergang durch das Dorf schöne Augen gemacht hatten. Ihr war beinahe übel geworden.) Aber diese Sache stand um einiges schlimmer, als Jane es sich je hätte träumen lassen. Und sich dann vorzustellen, dass der arme Dr. Berridge so verrückt nach Victoria war, wie Victoria nach Jason verrückt zu sein schien!
»Oh, das kann nicht sein!«, rief Victoria, die am Schreibtisch ihres Vaters stand, und gab damit unwissentlich Janes Gedanken wieder.
»Was ist los?«, fragte Jane und drehte sich um.
»Das hier«, erwiderte Victoria. Sie hob ein Buch von der Größe einer Gutenberg-Bibel vom Boden auf und legte es auf den Tisch. »Ich nehme an, das ist das gesuchte Buch.«
»Oh, du liebe Güte. Das kann ich niemals unbemerkt aus eurem Haus schaffen«, sagte Jane frustriert.
»Er hat es auf den Boden gelegt, als Fußstütze, nehme ich an.« Victoria öffnete den schweren Deckel und schlug das Buch an einer zufällig gewählten Stelle auf.
Zwölfter März 1805 – Mr Cloper beklagt den Verlust dreier Schafe. Festgestellt, dass sein Nachbar Mr Frederickson drei neue Schafe hat. Die Schafe waren ohne Kennzeichen. Mr F… hatte eine Abschrift der Kaufrechnung. Gegen Mr F wurde keine Anklage erhoben.
Es muss das Buch sein, in dem Sir Wilton seit dem Beginn seiner Amtszeit als Friedensrichter alle Vorkommnisse festhält, dachte Jane. »Kein Wunder, dass es so dick ist.«
»Das ist es in der Tat«, bekräftigte Victoria.
Wie es schien, protokollierte Sir Wilton alles und jedes – ob die Informationen allerdings immer zutrafen oder wie er in der Angelegenheit verfahren war, war allerdings eine ganz andere Sache.
Jane schaute zur Tür. Michael und Joshua war es offenkundig gelungen, sich weiter als erwartet flussabwärts treiben zu lassen; im Haus herrschte Stille. Sie blätterte durch die Seiten, las Eintragungen, die mehr als ein Jahrzehnt zurückreichten, und hoffte, bei dieser ersten schnellen Durchsicht
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