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Der Sommer, der nur uns gehoerte

Titel: Der Sommer, der nur uns gehoerte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Han
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beschlossen wir an jenem Tag, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Die Zukunft war unser Ziel.

12
    In jener Nacht träumte ich von Conrad. Im Traum war ich genauso alt wie in Wirklichkeit. Aber er war jünger, zehn oder elf vielleicht. Kann sein, dass er sogar noch Overalls trug. Wir haben draußen vor dem Haus meiner Familie gespielt, bis es dunkel wurde, sind die ganze Zeit einfach rumgerannt. »Du solltest langsam nach Hause gehen«, sagte ich. »Susannah wird sich Sorgen machen.« Darauf sagte er: »Ich kann nicht. Ich weiß nicht, wie ich hinkomme. Hilfst du mir?« Das machte mich traurig, weil ich es auch nicht wusste. Auf einmal waren wir nämlich nicht mehr bei unserem Haus, und es war ganz dunkel. Wir waren im Wald. Wir hatten uns verirrt.
    Als ich aufwachte, weinte ich. Jeremiah lag schlafend neben mir. Ich setzte mich auf. Es war dunkel im Zimmer, das einzige Licht kam von meinem Wecker. Er zeigte 4:57 an. Ich legte mich wieder hin.
    Ich wischte mir über die Augen, und dann atmete ich Jeremiahs Duft ein, nahm seine vertrauten Gesichtszüge in mich auf und die Art, wie seine Brust sich beim Atmen hob und senkte. Er war da. Wirklich und verlässlich und direkt neben mir, so dicht an mich gedrängt, wie das nun mal in einem schmalen Wohnheimbett ist. So nah waren wir einander jetzt.
    Als ich am Morgen wieder wach wurde, erinnerte ich mich nicht gleich. Der Traum war noch immer da, in meinem Hinterkopf, an einer Stelle, die mir nicht gleich zugänglich war. Er verblasste schnell, fast völlig, aber nicht ganz, noch nicht. Um ihn festzuhalten, musste ich angestrengt nachdenken und möglichst schnell die einzelnen Bruchstücke zusammenfügen.
    Ich wollte mich aufsetzen, doch Jeremiah zog mich zurück an seine Seite. »Nur noch fünf Minuten«, murmelte er. Er war der große Löffel, ich war der kleine Löffel, der sich an die Stelle in seinem Arm schmiegte, die mir gehörte. Ich schloss die Augen und zwang mich, die Erinnerungen heraufzuholen, bevor sie ganz verschwunden waren. Wie in den letzten Sekunden, bevor die Sonne untergeht: Gleich ist sie weg – gleich – gleich – jetzt. Erinnere dich, erinnere dich, oder dein Traum entgleitet dir für immer.
    Jeremiah wollte etwas übers Frühstück sagen, doch ich hielt ihm den Mund zu. »Psst! Sekunde.«
    Dann hatte ich es wieder. Conrad, der so niedlich aussah in seinen Jeans-Overalls. Wir beide, draußen vor dem Haus, stundenlang spielend. Ich stieß einen Seufzer aus. Ich war so erleichtert.
    Â»Was wolltest du sagen?«, fragte ich Jeremiah.
    Â»Frühstück«, sagte er und drückte einen Kuss auf meine Handfläche.
    Ich kuschelte mich enger an ihn. »Nur noch fünf Minuten.«

13
    Ich wollte es allen persönlich sagen, und zwar allen auf einmal. Auf seltsame Weise wäre der Zeitpunkt geradezu perfekt. Unsere Familien wollten in der Woche darauf in Cousins zusammenkommen. Ein Frauenhaus, für das Susannah ehrenamtlich gearbeitet und Spenden eingeworben hatte, widmete ihr einen neu angelegten Garten, der am kommenden Samstag mit einer kleinen Feierstunde eingeweiht werden sollte. Wir würden alle da sein, Jere und ich, meine Mom, sein Dad, Steven, Conrad.
    Ich hatte Conrad seit Weihnachten nicht mehr gesehen. Er hätte eigentlich zum fünfzigsten Geburtstag meiner Mutter einfliegen sollen, hatte aber in letzter Minute gekniffen. »Typisch Con«, hatte Jeremiah das kopfschüttelnd kommentiert. Dabei hatte er mich angesehen, als wartete er darauf, dass ich ihm recht gab. Ich hatte nichts dazu gesagt.
    Meine Mutter und Conrad hatten eine ganz besondere Beziehung, immer schon. Sie verstanden einander auf einer Ebene, die mir nicht zugänglich war. Nach Susannahs Tod wurde diese Beziehung noch enger, vielleicht weil sie beide auf dieselbe Art um sie trauerten – allein. Mom und Conrad telefonierten oft; worum es dabei ging, wusste ich nicht. Daher war sie wirklich enttäuscht, als er nicht kam, auch wenn sie es nicht aussprach. Am liebsten hätte ich ihr gesagt: Liebe ihn, so sehr du willst, aber erwarte nicht, etwas zurückzubekommen. Auf Conrad ist eben kein Verlass.
    Immerhin schickte er ihr einen schönen Strauß roter Zinnien. »Meine Lieblingsblumen«, sagte sie strahlend.
    Was er wohl sagen würde, wenn wir ihm unsere Neuigkeiten erzählten? Ich konnte es mir absolut nicht vorstellen. Bei Conrad war ich mir nie sicher,

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