Der Sommer der Schmetterlinge
wiedersehen möchte, außer meiner Schwester.
Eduarda nickte, wagte aber keine Fragen. Maria Inês war betrunken und konnte ihr Geständnisse machen, die sie nicht hören wollte. In gewisser Weise schätzte sie diese Distanz, eine gesunde Distanz zwischen Mutter und Tochter. Jede hütete ihre eigenen Geheimnisse. In ihrem Alter war das verständlich, obwohl es nicht immer so gewesen war und in der Zukunft wahrscheinlich nicht so bleiben würde, später, wenn die Jahrzehnte, die Mutter und Tochter trennten, keine Jahrzehnte mehr wären, sondern nur mehr eine unwichtige Zahl, eine bloße Angabe im Personalausweis.
Noch ein bisschen Kaffee?
Maria Inês nickte und erhob sich mit äußerster Vorsicht vom Bett wie ein Kranker nach einer Operation. Ihre Bewegungen wirkten, als schmerzte ihr ganzer Körper. Sie strich ihr Kleid glatt und fuhr sich mit den Fingern durch die kurzen Haare. Dann brachte sie vor dem Spiegel ihren Lidschatten in Ordnung und musste dabei an Rotkäppchendenken: Großmutter, warum hast du so große Augen?
Damit ich alle ungesagten Worte erkennen kann.
Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück, und João Miguel tuschelte ihr zu: Die Leute haben schon angefangen, nach dir zu fragen.
Maria Inês strich ihm sanft über sein verstauchtes Handgelenk, so sanft, dass er die Berührung kaum spürte. Wie ein Insektenflügel.
Ich hoffe, es heilt bald, sagte sie, ging zur Musikanlage und legte abermals das Trio von Brahms ein: Horn, Violine und Klavier. Der bartlose Rockfan mit den langen Haaren und dem Guns’n’Roses-T-Shirt warf ihr einen missbilligenden Blick zu.
In dem staatlichen Krankenhaus, in dem Maria Inês arbeitete, gab es Leute, die noch nie einen Tennisschläger aus der Nähe gesehen hatten, die keine Vorstellung davon hatten, was die Kanäle von Venedig waren, und die bei den Preisen auf der Speisekarte des Antiquarus einen Lachanfall bekommen hätten. So viel für ein Steak? Sie scherzen, Frau Doktor.
Dort war Maria Inês die Frau Doktor. Seit fast zwei Jahrzehnten, und trotzdem bereitete es ihr immer noch Schwierigkeiten, sich in dieser Anrede, die ihrem Ego nie geschmeichelt hatte, wiederzuerkennen. Sie war keine gute Ärztin, aber sie mochte ihre Patienten. Sie arbeitete in der dermatologischen Abteilung: Mykosen. Akne. Lupus discoides, Pemphigus. Schuppenflechte. Pyodermitis.Krätze, aktinische Dermatitis, Nesselsucht, Lepra. Hautkrebs. Kutane Leishmaniose.
Ihr Chef hatte sie einmal ungerechterweise als typische gelangweilte Ehefrau aus der Mittelschicht bezeichnet, die zwischen Maniküre und Nachmittagstee ein bisschen Sozialarbeit leiste. Als gäbe sie einem Bettler an der Ampel Almosen, ohne das elektrische Fenster ihres Importwagens allzu weit zu öffnen, um ja nicht überfallen zu werden. Der Chef wurde einen Monat später versetzt, weil seine Unterschrift auf Quittungen mit überteuertem chirurgischen Material aufgetaucht war, ein übliches Verfahren, das in dem Fall leider an die Presse gelangte. Er wechselte in eine andere Abteilung des Krankenhauses.
Otacília und Afonso Olímpio lebten nicht mehr, als Maria Inês an der Universidade Federal ihr Diplom erhielt: Absolventin des Jahres 1979. Unter den anderen Absolventen mit (falschen oder echten) Smaragdringen an den Fingern und Zeugnisrollen in den Händen gab es einen jungen Mann namens Bernardo Águas, der eine schöne Baritonstimme hatte und die Medizin zugunsten einer sich rasch international entwickelnden Sängerkarriere an den Nagel hängte. Alte Musik. Kürzlich war er durch die Veröffentlichung eines Albums mit der Sopranistin Emma Kirkby und dem Lautenspieler Hopkinson Smith in den erlesenen Kreis der weltweiten Liebhaber dieser Richtung aufgenommen worden. In seine Arme flüchtete sich Maria Inês hin und wieder, ein, zwei Mal im Jahr. Wenn er in Rio war, rief Bernardo Águas sie an, und dann tranken sie in irgendeiner Bar am Meer Gin-Tonic,hörten Musik im Auto und ließen den Abend in der Wohnung ausklingen, die er noch in der Stadt unterhielt. Dort gaben sie sich einem angestrengten Sex hin, der nichts mit Liebe und nur sehr wenig mit Freundschaft zu tun hatte. Es war eine Art Ritual, das für beide Seiten einen spezifischen Gewinn darstellte – oder die Illusion eines spezifischen Gewinns. Maria Inês verband Bernardo Águas mit Abenden in feuchter Salzluft, leichten Gin-Tonic-Räuschen und diesen überaus sanften Renaissanceund Barockliedern, die er so gut vortrug: Monteverdi, John Dowland, Marc-Antoine
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