Der Sommer der Schmetterlinge
die Schwester, die Tante. Und an etwas anderes, das Eduarda nicht beim Namen nennen konnte, das jedoch schon lange durch Maria Inês’ Träume geisterte.
Bist du sicher, dass du nicht lieber mit deinem Vater fahren willst?
Bin ich, antwortete Eduarda.
Maria Inês schloss die Augen wieder. Sie atmete tief durch und glaubte erneut, dass es möglich war.
Ein langer Mensch von kurzem Wuchs, mit dickem Bauch, dünn war er auch, saß stehend auf ’ner steinern’ Bank aus Holz.
Wer ist eigentlich dieser Verwandte deines Vaters, der beim Film arbeitet? Der mit der Halbglatze.
Das ist Artur. Ein Cousin zweiten Grades.
Sie lächelten.
Er sprach von persönlichen Problemen.
Hat sich von seiner Frau getrennt. In Wirklichkeit scheint sie ihn mit seinem ewigen Geschwätz allein gelassen zu haben.
Eduarda brauchte keinen Hinweis, um mitzubekommen, dass ihr Vater sich mit der Exfrau des Cousins Artur traf. Sie musste keine Hellseherin oder Wahrsagerin sein, um zu wissen, dass ihre Eltern sich nicht mehr küssten. Vermutlich schliefen sie auch nicht mehr miteinander. Ihre Mutter hatte einen gelegentlichen Liebhaber, der im Ausland lebte, einen ehemaligen Studienfreund von der Medizinischen Fakultät. Sie sahen sich vielleicht einMal pro Jahr. Und ihr Vater traf sich mit der Exfrau des Cousins Artur. Das Glück der Anziehung war so vergänglich, es verflog so rasch, so rasch.
Aber Eduarda wusste zum Beispiel nichts über einen jungen Venezianer namens Paolo. Der stehend auf einer steinernen Holzbank am Tisch des Cafés Florian saß, während die Tauben den Markusplatz wie ein lebendiger Teppich bedeckten. Die stinkenden wohlriechenden Kanäle. Der schlechte gute Geruch. Wie der Geruch nach Rinderdung auf der Fazenda. Venedig: ein Traum, ein Alptraum.
Ich habe ziemlich viel getrunken, wiederholte Maria Inês. Wann geht der Besuch denn?
Aber, Mama, es ist noch früh. Wir haben nicht mal das Abendessen aufgetragen. Soll ich dir einen starken Kaffee bringen?
Maria Inês machte eine zustimmende Kopfbewegung und sagte: Ja, ich möchte einen starken Kaffee und eine Cola, bitte.
Sie hatte gehört, dass Lastwagenfahrer sich damit munter hielten: mit viel Kaffee und viel Coca-Cola. Andere, wie Clarice, hätten Kokain bevorzugt. Zu anderen Zeiten wenigstens, vor der Entzugsklinik. Vor den aufgeschnittenen Pulsadern und der Intensivstation. Während Eduarda in die Küche ging, drehte Maria Inês sich auf die Seite und musterte den alten Wechselrahmen, der auf ihrem Nachttisch Geheimnisse ausplauderte. Mehrere zurechtgestutzte Fotos bildeten eine Art Mosaik: Die ganz kleine Eduarda beim Spielen in den Sanddünen von Cabo Frio. Eduarda und ihre unzertrennlichen Freundinnen Ninaund Dedé, für den ersten Tag des Schuljahres in Uniform herausgeputzt, gekämmte und tadellos gescheitelte Haare, strahlend weiße Schuhe und ein schüchternes Lächeln in den Gesichtern. Die Senhora Clarice im Jahr 1970, als Braut ausstaffiert. Maria Inês und Clarice im Alter von sieben und elf Jahren, noch vor jener Erschütterung der Welt, als die Wege sich umgekehrt und die Jahreszeiten ihre Selbstverständlichkeit verloren hatten. Vor jener halbgeöffneten Tür und dem Anblick einer Männerhand auf einer blassen Mädchenbrust (blasser als die Traurigkeit, trauriger als die abgebrochene Kindheit).
Maria Inês fand ihre Tochter beinah hübsch. Sie hatte einen schlanken Körper und ein schmales Gesicht, drückte sich mit ruhigen Worten aus, und ihre Gedanken waren beweglich, leichtfüßig wie ein Bach. Sie hatte helle Augen, wenn auch nicht so hell wie Otacílias Aquamarine. Eduarda war schwerelos, luftig, ihre Gesten waren einfach. Ein Mädchen ganz aus Sommer.
Eduarda kehrte zurück ins Schlafzimmer mit einem kleinen Tablett, auf dem eine dampfende Kaffeekanne stand. Daneben eine Tasse. Kein Zucker. Und eine rot-schwarz-silbrige Coca-Cola-Dose.
Hier, Mama.
Maria Inês hatte das Gefühl, dass sich alles um sie her drehte. Wenn sie die Augen schloss, wurde es noch schlimmer, das Bett begann zu schaukeln wie ein Schiff auf stürmischer See, drohte im schwankenden Boden zu versinken.
Wann fahren wir?, fragte Eduarda.
Mein Urlaub fängt am zweiten an. Dann warten wir noch, bis dein Vater abgereist ist. Am Tag darauf können wir fahren, das ist ein Montag.
Wie lange werden wir bleiben?
So lange, wie wir wollen. Einen Tag, zwei Tage, zehn Tage, einen Monat.
Oder für immer?
Oder für immer. Willst du?
Vielleicht.
Es gibt jemanden, den ich dort
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