Der Sommer der Schmetterlinge
leuchtete. Sie fuhren in den Tunnel, gelangten nach São Cristovão und nahmen die Linha Vermelha, auf der die zulässige Höchstgeschwindigkeit neunzig Kilometer pro Stunde betrug, alle aber hundert, hundertzwanzig und manchmal auch hundertvierzig fuhren. Kurz darauf durchquerten sie den Gegenentwurf zum wohlhabenden Lagunenviertel Rodrigo de Freitas, einen stinkenden Mangrovensumpf, wo ärmliche Wohnkomplexe hinter Werbetafeln für Mobiltelefone auftauchten. Sie kamen am Universitätskrankenhaus vorbei und erreichten schließlich die Ilha do Governador mit dem Internationalen Flughafen.
Maria Inês überlief ein leichter, nicht sehr bedeutsamer Schauer bei der Erinnerung daran, wie sie sich einmal mit Bernardo Águas am Flughafen getroffen hatte. Er war nur für eine Woche nach Brasilien gekommen: irgendwas mit dem Visum in seinem Pass. Noch vor dem großen Erfolg. Und vor der Linha Vermelha. Vom Flughafen waren sie direkt zu einem Motel in der Avenida Brasil gefahren.
Es war nicht unbedingt gut, daran zu denken, aber es war auch nicht schlimm. Maria Inês suchte eine Lücke auf dem Parkplatz, die Musik im Auto hatte aufgehört. Doch sie trällerte immer noch Si, ch’io vorrei morire , miteiner fürchterlichen Aussprache und obwohl sie vom Text des Liedes nur die offenkundigsten Wörter erriet, die, die dem Portugiesischen am nächsten kamen. Aber das war unwichtig, sie war ohnehin keine großartige Sängerin.
Und ihr Leben jetzt: so anders. Wo waren die Guavenbäume, die man hinaufklettern, und die Früchte, in die man hineinbeißen konnte? In der beständigen Angst, irgendein Tier zu verschlucken. Ein Tag noch. Wo waren die Perlhühner und die viel zu früh krähenden Hähne? Und die Schmiedefrösche mit ihrem hämmernden Ruf? Kleiner Laubfrosch da, am Ufer fern und nah. Wenn das Fröschlein schreit, ach so laut, ist ihm kalt, o ja. Ein Tag noch. Wie schön wäre es, wenn die Erinnerung an die Fazenda und an die Kindheit aus solchen kleinen bukolischen Fetischen bestünde, aus Liedern, die man am Lagerfeuer, einen Joint rauchend und mit gedämpfter Stimme zur Gitarre singen könnte. Doch nein.
Sie spielte mit dem Schlüsselbund in ihrer Tasche und dachte wieder an das Etui mit dem Metallschild M.I.A. Die Business Class wurde zum Einstieg aufgefordert, während sich die Menschen in der Economy Class bereits an Bord drängten und nicht immer höflich um die Gepäckfächer stritten. Hier war João Miguel ein Passagier der Business Class: Scotch und Blinis au saumon . Dort nur der Besitzer eines grünlichen Dokuments, das bei den Zollbeamten der Ersten Welt regelmäßig Misstrauen weckte.
Maria Inês war froh, nicht einsteigen zu müssen. Glücklich, den vecchio Azzopardi nicht wiedersehen zu müssen.Keinen Chianti am Esstisch in seiner herrlichen Villa trinken zu müssen. Nicht die (falsche) Ehefrau-Geliebte (die nicht immer so falsch gewesen war) des erfolgreichen João Miguel sein zu müssen (der nicht immer so erfolgreich gewesen war). Sie verabschiedeten sich mit einer Umarmung voneinander, die so vieles bedeuten konnte: Verzeih mir. Vergiss mich. Ich verzeihe dir nicht. Ich habe Fehler gemacht. Wir haben Fehler gemacht. Mach dir bitte keine Sorgen, ja? Wir können noch einmal von vorn anfangen . Achtung, du musst dich beeilen. Fahr vorsichtig. Ich rufe an. Ja, ruf an. Aber keine Umstände. Nun geh schon.
Der Abend wurde der längste von allen. Zurück in Leblon, in ihrer weißen Wohnung, sagte Maria Inês Eduarda gute Nacht und begann, ihre Koffer mit all den unklaren Dingen zu füllen, die sie auf diese Reise mitnehmen musste.
Wieder einmal hatte sie die Silvesterfeier überstanden, ein Anlass, bei dem die weiße Wohnung durch die vermeintlich glückbringende weiße Kleidung der zwanghaft ausgelassenen Gäste noch weißer wurde. Maria Inês mochte keine Feiern, war jedoch von ihnen umgeben. Die Kosmetikerin hatte ihr die Fingernägel weiß lackiert, freiwillig hatte Maria Inês auf ihr Recht zur Verweigerung verzichtet. In diesem Jahr aber konnte es sein, dass sie nur ein letztes kleines Zugeständnis gemacht hatte, und sie fragte sich, inwiefern sie überhaupt gebraucht wurde. Vielleicht war sie im kommenden Jahr nicht mehr dabei, und niemand würde es merken.
Wo würde sie am nächsten 31. Dezember sein? Kurz vor dem Ende des Jahrzehnts. Kurz vor dem Ende des Jahrhunderts. Kurz vor dem Ende des Jahrtausends.
Alles war so ausbalanciert. So fein und empfindlich ausbalanciert. Alles konnte bis ins
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