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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Lisboa
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vergaß und dem sie nur ein einziges Mal in gesteigerter Form wiederbegegnen sollte, ausreichend, dass Maria Inês sich dauerhaft einbrannte.
    Immer wieder sie, immer wieder Maria Inês. Plötzlich tauchte sie auf. Immun gegen die Zeit, die Entfernung und alle bewussten oder unbewussten Versuche, sie fortzuschieben. Maria Inês, ein Zerrspiegel, der die schlimmsten Dinge offenbarte. Maria Inês, der weder Clarice noch Tomás jemals vergeben konnten. Der weder Clarice noch Tomás jemals genug danken konnten. Maria Inês hatte etwas geschenkt, doch anschließend hatte sie es zerstört.
    Als Clarice im Jahr 1965 mit ihren beiden Koffern und dem in Packpapier gehüllten Päckchen in Rio de Janeiro ankam und an die Tür von Großtante Berenice klopfte, war ihr Herz in zwei Hälften geteilt. In der einen lebte die Trauer um Lina und das Bedürfnis, einen Kompromiss zu schließen, die Vergangenheit zu den Akten zu legen, weil ihre Freundin nun einmal tot war. In der anderen dagegen hauste das Paradoxe, das Absurde, das Unverzeihliche, und zwischen diesen beiden Hälften glühten die Augen von Maria Inês, und Clarice wusste, dass die Geschichte ihr Ende noch nicht erreicht hatte.
    Großtante Berenice stellte keine Fragen, sondern umarmte sie nur herzlich und undramatisch. Dann zeigte sie ihr das für sie, Clarice, vorbereitete Zimmer, ein Zimmer,das sich völlig von dem unterschied, welches sie auf der Fazenda bewohnt hatte. Dessen Fenster nicht aufs weite Grün gingen, sondern auf die asphaltierte Straße und ein paar andere Wohnhäuser. Links sah man die Baumreihe des Aterro-Parks und dahinter das Meer. In diesem Zimmer in der Stadt sollte sie fünf Jahre wohnen, bis sie von dort aus direkt in die kleine Kirche von Jabuticabais zurückkehrte, wo am Altar Ilton Xavier auf sie wartete.
    Der Sohn der Gutsnachbarn. Während des Essens am Vorabend hatte er Clarice das Versprechen abgerungen, ihm zu schreiben. Und ihr außerdem einen flüchtigen Kuss geraubt, im Korridor, der den Salon von den Schlafzimmern trennte. Dabei hatte er sie gegen die raue Wand gedrückt wie ein Latin Lover . Fast hätte Clarice sich an dem Kuss verschluckt, so sehr hatten seine Lippen sich in unerfahrener Gier auf ihre gepresst. Jetzt erinnerte sie sich daran, aber auch an Lina und ihr ausgeblichenes Tuch und an so viele andere Dinge. An die lange Straße, die sie von Maria Inês, Otacília und Afonso Olímpio entfernt hatte. Wenigstens physisch.
    Ihr tat der Bauch weh, ihr tat der Kopf weh. Sie wandte sich an Großtante Berenice und erschrak über ihre eigene Stimme, die klang, als hätte sie jahrelang geschwiegen.
    Hast du vielleicht ein Schmerzmittel?
    Leg dich hin, zieh die warmen Sachen aus und etwas Bequemeres an. Ich bringe dir das Schmerzmittel und eine Kleinigkeit zum Essen.
    Ein Glas Milch genügt mir.
    Doch die Großtante, die ein selektives Wahrnehmungsvermögenbesaß, überhörte den letzten Satz und brachte ein reichhaltiges Tablett mit Suppe, Brot, Butter, Limonade und Pudding. Während Clarice aß, sprach sie mit ihrer seidenweichen Stimme zu ihr und listete die Spaziergänge auf, die sie in der kommenden Woche gemeinsam machen könnten. Es gebe so viele hübsche Orte in Rio de Janeiro. Und hübsche Burschen, fügte sie mit verschmitztem Lächeln hinzu.
    Wir werden dich an einer guten Schule einschreiben. Was brauchst du noch? Klavierstunden? Eine Französischlehrerin? Es gibt so viel zu tun, wenn man fünfzehn ist.
    Clarice sah sie dankbar aus ihren traurigen Augen an und aß gerade genug, um Großtante Berenice nicht zu kränken, die gleich darauf die Vorhänge zuzog und mit den Worten Ruh dich aus den Raum verließ.
    Ruhe in Frieden , ergänzte Clarice im Stillen, aber dann fiel ihr ein, dass man das nur zu den Toten sagte. Als ob die Toten hören könnten. Vielleicht konnten sie es ja tatsächlich, sie oder die Instanz, die für ihr Schicksal verantwortlich war.
    Wie eine übervolle Einkaufstasche warf sie ihren Körper auf die weiche Matratze und die sauberen Laken des Bettes. Und in diesem Moment begann sie unbewusst mit dem Projekt, das sie in den langen folgenden Jahren fieberhaft beschäftigen sollte: zu vergessen, wer Clarice war. Eine neue Clarice zu modellieren, so wie man aus einem Klumpen Ton eine Skulptur modelliert.
    Vergessen. Gründlich. Die Seele mit einer hauchdünnen Klinge, mit dem Skalpell eines Chirurgen ausschabenund vergessen , wenn es schon nicht möglich war, etwas zu ändern. Doch nein: Der Schmerz war

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