Der Sommer der Schmetterlinge
verkraften, er lief über. Geistesabwesend hielt sie die Skulptur der toten Lina im Arm und trat vor ihre Eltern. Lange sahen sie einander an, und zum ersten Mal sprachen ihre Blicke die Wahrheit. Clarice und ihre Eltern. Alles andere ringsum war so verworren und durcheinander wie an einem Faschingsdienstag voll schriller Töne und maskierter Narren zwischen Konfettiregen und Luftschlangen. Ein ins Gegenteil verkehrter Karneval. Kein Spaß, sondern die Wahrheit. Keine Verkleidung, sondern die Wahrheit. Und so standen sie eine Ewigkeit da: als stummes Dreieck. Noch trauriger war der Gedanke, dass die tote Lina jetzt nur eine zufällige Begleiterscheinung war. Für sie blieb kein Raum in diesem dreifachenBlick, mit dem Clarice, Afonso Olímpio und Otacília einander sagten: Es ist vorbei .
Mit Lina war es auch vorbei, doch das war nur mehr eine Nebensache.
Maria Inês schimpfte mit João Miguel, der sie nicht loslassen wollte: Kannst du nicht mal eine Minute ohne mich auskommen, Mensch? Die langen, dunklen Zöpfe im Wind, lief sie, um dem abfahrenden Auto hinterherzuschauen, das Clarice nach Rio de Janeiro bringen sollte. Und obwohl unzählige elektrische Funken durch ihren Körper jagten, richtete sie noch eine Art Gebet an ihre Schwester: Bitte, bleib am Leben .
Inmitten all der Menschen, die gerade eintrafen oder gingen, die auf einem Pferd angeritten kamen oder mit dem Auto vorfuhren, die das Gesicht abwendeten oder unverhohlen weinten, stieg Clarice in das leise brummende Taxi. Irgendwo lag Lina, die nicht mehr Lina war, die dessen beraubt war, was sie zu Lina gemacht hatte. Clarice schloss die Augen und wurde von einer grausamen Erinnerung, die nichts mit Lina zu tun hatte, heimgesucht. Unbewusst sprach sie zu sich selbst: Bitte, bleib am Leben .
Lina war eine Freundin gewesen. Diese Tragödie zu diesem besonderen Zeitpunkt wollte jedoch mehr sagen. Wollte etwas sagen, das über sie hinauswies. Es war vorbei . Aber was hieß vorbei sein ? Würden die beschädigten Hoffnungen zur Normalität zurückfinden? Würde die beschädigte Kindheit in der Erinnerung ausgelöscht werden und zur Normalität zurückfinden? Die Drosseln und Benteveoszwitscherten, als wäre nichts gewesen. Langsam setzte sich das Auto in Bewegung, und der Fahrer machte ein paar Bemerkungen über das Verbrechen. Für Clarice klangen sie wie in Watte gehüllt, sie konnte kein sinnvolles Wort aus der formlosen Masse von Tönen filtern.
Sie dachte nicht an Lina, nicht ausdrücklich. Als sie merkte, dass ihr schlecht wurde, sagte sie zu dem Fahrer: Halten Sie bitte kurz an. Sie öffnete die Tür und übergab sich, auf dieselbe unbefestigte Straße, auf der ihre Freundin vergewaltigt und ermordet worden war. So lauteten die Begriffe. Verbotene Begriffe. Dort auf der vom Regen schlammigen Erde lag Linas Tuch, das Tuch, auf dem einst klar umrissen dunkelrote Rosen geleuchtet hatten.
Dann blickte Clarice zurück, zu ihrem Elternhaus, in Richtung Vergangenheit, und erkannte in der Ferne die schmale Silhouette ihres Vaters.
» SI, CH’IO VORREI MORIRE …«
Immer wieder sie, immer wieder Maria Inês. Die es auf rätselhafte Weise vermocht hatte, sich in Tomás’ Leben einzubrennen wie ein Brandeisen in die Haut eines Rindes. In sein und in Clarices Leben. Ein nach dem Gewitter am Himmel schillernder Regenbogen. Der dunkle Fleck der Sonne, der auf der Netzhaut zurückbleibt. Die Narbe nach einer Operation oder die Narbe nach einem Schnitt mit dem Olfa-Messer. Der Ruß, der noch in der Luft hängt, wenn das Streichholz schon verloschen ist, der Duft des Weihrauchs, der das Stäbchen überdauert. Ein ausgeblichenes Tuch.
An dem warmen Abend auf der Fazenda, dem Vorabend von Maria Inês’ Ankunft nach so vielen Jahren sagte Clarice, während sie mit einem Taschenmesser Muster in ein Holzstück schnitzte, zu Tomás: Ich hatte einmal eine Freundin. Sie hieß Abrilina, aber für uns war sie bloß Lina.
Tomás kraulte das Fell des Hundes, der sich jetzt neben ihn gelegt hatte.
Sie ist vor über dreißig Jahren gestorben, sagte Clarice und erzählte Linas Geschichte, die Geschichte der hübschen Lina, die nur eine Nebenfigur gewesen war, ihr Ende nur eine zufällige Begleiterscheinung, ein brutaler und alltäglicher Tod, den die Leute viel zu schnell vergessen hatten.
Bei jenem fernen Anlass, dem Abschiedsessen, mit dem zugleich Clarices fünfzehnter Geburtstag gefeiert worden war, hatte Maria Inês ihr einen flammenden Blick zugeworfen, den sie nie
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