Der Sommer der Schmetterlinge
neue Jahrtausend reichen und weitere zwei, drei, vier Jahrzehnte andauern. Musste sie sich irgendwie privilegiert fühlen? Denn die Balance war zweifellos ein Privileg. Und sie hatte ihren Preis. Wie die Ware aus einem Feinkostgeschäft.
Jetzt aber wollte sie Bewegung. Sie wollte, dass ein kleiner bunter Schmetterling, der über einen verbotenen Steinbruch flatterte, mit sanftem Flügelschlag das Wunschbild eines nie gesprossenen Geldbaums berührte. In dieser Nacht glaubte Maria Inês wieder, dass es vielleicht möglich war.
Eduarda sah in ihrem Zimmer fern. Maria Inês erkannte das Jingle des Kanals, auf dem diese harmlosen Sitcoms liefen: Friends , Mad About You , Seinfeld , und wie sie alle hießen. Es war schon nach Mitternacht, aber keine von beiden schien müde oder in Eile zu sein. Sie hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen, weil sie den Widerspruch dieser einsamen Zweisamkeit brauchten. Maria Inês warf eine Reisetasche aufs Bett und zog langsam die Schubfächer des Schranks auf. Beinah ein bisschen neugierig, als wüsste sie nicht, was sie darin finden würde.
Der Sommer war auch die Jahreszeit der Moskitos. Der leicht zu erlegenden trägen Stechmücken und der nervösen kleinen Kriebelmücken, die einem um die Ohrenschwirrten. Um sie zu vertreiben, zündeten Tomás und Clarice ein Räucherstäbchen an. Tomás hielt noch immer das leere Glas umfasst, Clarices Blick ruhte auf seiner Hand.
Langsam brannte das Räucherstäbchen herunter. Wie jemand, der einen kleinen Diebstahl oder ein lächerliches Geheimnis beichtet, sagte Tomás zu Clarice: Als ich deine Schwester zum ersten Mal gesehen habe, musste ich an ein bestimmtes Bild denken.
Clarice musterte ihn mit verhaltenem Interesse.
An ein Gemälde von Whistler, das den Titel Mädchen in Weiß oder Symphonie in Weiß Nr. 1 trägt.
Heilige Worte. Eines privaten Altars würdig. Zu Ehren eines Gottes, dessen einziger Anhänger er selbst war, dachte Tomás. Doch der Mythos starb in dem Moment, da er die Grenzen seiner eigenen Träume überschritt, die schon lange keinen Sinn mehr hatten, die ihm mumifiziert und fluchbeladen vorkamen, als wären sie unter der Erde begraben.
Anscheinend interessierte sich nicht einmal Clarice dafür, denn ihre Frage klang eher halbherzig: Hast du eine Reproduktion des Gemäldes?
Er kannte das Bild auswendig. Im Hintergrund eine Art schwerer weißer Vorhang. Der Fellteppich unter den unsichtbaren Füßen des Mädchens (wahrscheinlich ein Wolf oder Bär: das offene Maul mit den weißen Zähnen). Ein auf den Teppich gefallener Blumenstrauß. Und das Mädchen mit der nachdenklichen Miene, dessen blasses Gesicht, von dunklen Haaren umrahmt, deutlich hervortritt.Die Hände fast so weiß wie das lange Kleid. Die nur leicht geröteten Lippen. Eine zarte weiße Blume in der linken Hand.
Nein, antwortete er, er habe keine Abbildung des Gemäldes mehr, woraufhin Clarice eine improvisierte Melodie pfiff und versuchte, ihrem leeren Glas einen Ton zu entlocken, indem sie mit dem Finger über seinen Rand fuhr. Vergeblich: Das Glas war kein Meisterwerk aus Kristall, sondern ein massives Gefäß, in dem zuvor 215 Gramm Gelee eingemacht waren.
Clarice und Tomás hatten sich vor über zwanzig Jahren bei der Totenwache für Afonso Olímpio kennengelernt. Damals hatte er mit einigem Befremden festgestellt, dass weder sie noch Maria Inês den Tod ihres Vaters betrauerten. Das war, kurz bevor Clarice Ilton Xavier schließlich um die Scheidung bat und unmittelbar bevor Maria Inês den ersten offiziellen Heiratsantrag ihres Cousins zweiten Grades João Miguel Azzopardi annahm. Er war Tomás zuvorgekommen, und so musste der junge Künstler seine Liebe begraben wie ein davongejagter Hund, der seinen Knochen im Garten verscharrt.
Minuten, Stunden, Tage, Jahre.
Ich habe die Fähigkeit eingebüßt, sagte Tomás, und Clarice blickte ihn neugierig an. Die Fähigkeit, fuhr er fort, die ich hatte, als ich mit Maria Inês zusammen war. Biegsam zu sein, geschmeidig.
Er erinnerte sich daran, dass er vor ein paar Jahren Yoga gemacht hatte und seine Glieder in erstaunliche Positionen bringen konnte. Mittlerweile, sagte er, sei er dazunicht mehr in der Lage, sein Körper habe sich in einen rostigen Apparat verwandelt.
Wenn das eine Frage der Fähigkeit ist, meinte Clarice. Vielleicht ist es eher eine Frage des Willens, du weißt schon, wie alle diese Dinge: sich verlieben, sich nicht verlieben. Aufgeben. Überleben.
Aber der Wille muss sich fast immer
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