Der Sommer der Schmetterlinge
ihrer Haut eingeprägt wie ein weiterer Sinn, ein sechster oder siebenter Sinn, der über den Tastsinn hinausging. Als Clarice mit der Hand leicht über die Härchen auf ihrem Arm strich, tat ihr diese Berührung weh.
Vergessen. Gründlich. Durch die geschlossenen Vorhänge drang eine sepiafarbene, altertümliche Helligkeit, genau die richtige Helligkeit. Clarice begriff, dass sie gerettet war, aber sie begriff auch, dass sie nie gerettet sein würde, solange die Erinnerung fortbestand.
Vergessen. Gründlich. Nur mit Mühe erhob sie sich vom Bett, die Bewegung kostete so viel Kraft. In einem der Koffer befand sich eine winzige Ungehorsamkeit, die einzige: eine Handvoll feuchter Ton, in Plastik verpackt und sicherheitshalber noch mit Zeitungspapier umwickelt. Vorsichtig holte sie den Ton hervor, strich die Zeitung glatt, faltete sie einmal zusammen und legte sie auf den Boden. Es musste doch möglich sein, eine Skulptur zu schaffen, die zu einem der Titel in ihrem Kopf passte (manchmal begann Clarice ihre Skulpturen mit dem Titel – wie eine Erzählung, ein Gedicht oder ein Lied):
Das Vergessen
Das Gründliche Vergessen
Das Wahre, Gründliche Vergessen
Das Gründliche, Wahre, Endgültige Vergessen
Clarice wollte den Boden der sanften Großtante Berenice (mit der seidenweichen Stimme) nicht mit Ton beschmutzenund beschränkte den Aktionsradius ihrer Hände deshalb auf den durch die Zeitung geschützten Bereich. Doch es wollte nichts entstehen. Nicht, dass es Clarice an Ideen mangelte, nein. Es war, als besäße das Vergessen selbst weder Gesicht noch Gestalt.
Vergessen. Gründlich. Clarice fürchtete, dass sie sich nur mit einem Teil ihrer Person, einem bloßen Ausschnitt ihrer Geschichte identifizierte. Sollte ihr der ganze Rest geraubt worden sein? Sie brauchte dieses Vergessen. Aber der Ton lag noch immer auf dem gefalteten Zeitungsbogen, ein bisschen geknetet, aber ohne erkennbare Form. Inzwischen nahm das Tageslicht im Zimmer allmählich ab.
Maria Inês’ Augen glühten nicht mehr. Sie trug Wimperntusche auf und bürstete rasch ihre kurzen Haare, was eigentlich gar nicht nötig war. Im Gegenteil, die Bürste verdarb ihre Frisur, weil sie ihr den natürlichen Schwung nahm. Dann überprüfte sie abermals, ob ihre Augen ordentlich geschminkt waren. Normalerweise ziehen sich die Frauen ihre Lippen nach. Maria Inês zog immer ihre Augen nach. Sie schminkte ihre Augen gern so, dass sie tiefer wirkten, versunken in einem langen Tunnel aus getuschten Wimpern, Eyeliner und einer dünnen Schicht braunem Lidschatten. Die Augenringe kaschierte sie mit Concealer. Darüber hinaus verwendete Maria Inês keine Schminke, sie benutzte kein Make-up, kein Rouge, und ihr Mund blieb nackt und dunkel.
Sie überzeugte sich, dass sie die Schlüssel eingesteckt hatte. Ja, sie waren da, in ihrer Tasche, in dem ledernenEtui mit einem Metallschild, auf dem irgendwelche Initialen standen. Blödsinnig. Ein Schlüsseletui mit fremden Initialen, dachte Maria Inês und stellte sich ein Schild vor, auf dem M.I.A. stand. Genauso blödsinnig.
Es war Zeit aufzubrechen. João Miguels Koffer befanden sich schon im Auto, sie hatte sich angeboten, ihn zum Flughafen zu bringen. Eduarda erschien im Wohnzimmer, ein Paar Turnschuhe an den Füßen. Offensichtlich wollte sie mit zum Flughafen, obwohl sie es wenige Stunden zuvor gleichgültig abgelehnt hatte.
Papa ist noch nicht fertig, sagte sie. Logisch, er war noch nicht fertig, weil er für den späten Nachmittag eine Tennisstunde verabredet und danach mit seinem Trainer an der Poolbar Tequila Sunrise getrunken hatte (das verstauchte Handgelenk wieder ganz gesund). Maria Inês ärgerte sich nicht, sie hatte den Eindruck, dass die Dinge unmerklich ihren Lauf änderten. Vielleicht zum Guten.
Sie ärgerte sich nicht, eine halbe Stunde später aber legte sie im Auto eine gewisse Aufnahme eines gewissen Madrigals von Claudio Monteverdi ein. An der ein gewisser Bariton namens Bernardo Águas mitgewirkt hatte.
Si, ch’io vorrei morire,
ora ch’io bacio, amore,
la bella bocca del mio amato core.
[Ja, ich möchte sterben,
jetzt, da ich in Liebe
den schönen Mund meines geliebten Herzens küsse.]
Sie fuhren an der Lagune entlang, die bereits im Dunkeln lag und in deren Mitte ein riesiger, über und über erleuchteter Weihnachtsbaum stand. Die ganze Stadt war der Unsitte der zahllosen Made in Taiwan -Lämpchen erlegen: Bäume, Fassaden von Geschäften und Häusern, Blumenbeete, Fenster – alles
Weitere Kostenlose Bücher