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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Lisboa
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Inês wusste es ebenfalls.
    Ich glaube wirklich, du solltest fahren. Deine Mutter braucht dich.
    Sie hielt sich zurück und antwortete nicht: Ich habe sie auch gebraucht, meine Schwester hat sie viel zu sehr gebraucht, na und?
    Das waren ungesagte Dinge, die Tomás erst später begreifen sollte.
    Maria Inês würde fahren. Am nächsten Freitag. Um Otacílias Tod mitzuerleben. Um sie sterben zu sehen.
    In der Küche machte Clarice sich daran, die gefüllten Plätzchen zu backen, deren Rezept sie von Großtante Berenice gelernt hatte. Ihr Ehering leuchtete golden an ihrem Finger.
    3 Tassen Weizenmehl, 2 Tassen Zucker, Eigelb von 6 Eiern, Eiweiß von 3 Eiern, 1 Teelöffel Backpulver . Am Anfang dachte sie etwas an Lina, dann weniger. Schlagen Sie das Eiweiß zu Schnee, geben Sie das Eigelb und den Zucker dazu, rühren Sie das Ganze kräftig, und fügen Sie schließlich das durchgesiebte Mehl mit dem Backpulver hinzu .
    Das Taxi traf ein, als die Plätzchen gerade fertiggebacken waren. Sie mussten noch gefüllt und in die Glasurgetaucht werden, aber das hatte zu warten. Wichtiger war es, das Taxi und seine namhafte Reisende in Empfang zu nehmen, die vom Busbahnhof in Jabuticabais kam – der kleinen grauen Station mit Parkplätzen für zwei Busse, öffentlichen Toiletten mit improvisierten Pappschächtelchen, auf denen Kasse, vielen Dank stand, und Kugelschreiberkritzeleien an den Innenseiten der Türen: Mónica und Fábio , Alexandra und Adriano , Nur Jesus Christus kann dich retten . Außerdem gab es dort eine Kneipe, in der immer ein paar harmlose Trinker herumlungerten, die von einem halben Dutzend hungriger, auf die Reste eines Hühnerbeins hoffender Hunde umlagert waren. Und einen Zeitungskiosk. Die neue Stadtverwaltung hatte den Bahnhof mit ziegelroten, rosafarbenen und gelben Bougainvilleen umgeben lassen, so dass er fast einladend wirkte.
    Missgelaunt war Maria Inês am Busbahnhof angekommen, aber es ging ihr schon etwas besser, als sie aus dem Taxi stieg und aus ihrer Hippie-Tasche eine Hippie-Geldbörse und daraus das Geld für den Fahrer holte. Damals hatte sie gerade mit ihren Nachhilfestunden für Grundschüler und Halbwüchsige mit Lernschwächen begonnen – es war ihr eigenes Geld, mit dem sie das Taxi bezahlte. Und das Trinkgeld für den Fahrer.
    Clarice begrüßte sie glücklich und gab danach die üblichen Erklärungen ab, die niemand von ihr verlangte: Ilton Xavier ist zu Hause und kümmert sich um den Tierarzt, der unsere Kühe impfen soll. Ich habe hier auf dich gewartet und Plätzchen gebacken. Mama schläft.
    Afonso Olímpio erwähnte sie nicht. Sie umarmten sich lange, womit sie mehr sagten als mit den paar Worten. Viel mehr. Leider.
    Gern hätte Maria Inês gehabt, dass sich das Leben hier auf seine äußere Erscheinung beschränkte, doch nein.
    Wie geht es ihr?
    Schlecht.
    Und Vater?
    Irgendwo bei der Arbeit wie immer. Die Dienstmädchen sagen, dass er manchmal trinkt.
    Ist er weg?
    Clarice nickte und ließ dabei ihren Ehering vom Ringfinger auf den Mittelfinger und von dort auf den Zeigefinger gleiten, wo er ihr zu eng war.
    Seit heute Morgen. Zu einer Versammlung in der Kooperative, sagte sie.
    Maria Inês brachte ihren Koffer und die Hippie-Tasche in ihr Zimmer. Clarice sah die vielen Ringe, Ohranhänger, Halsketten und Armbänder an ihr. Ihre Schwester war hübsch. Mit lässigen Schritten ging sie in ihren flachen Ledersandalen vor ihr her, in die Küche, wo sie gemeinsam die gefüllten Plätzchen fertigbackten. Und ein Glas Guaraná tranken.
    Otacília war wach, als sich eine halbe Stunde später fast geräuschlos die Tür zu ihrem Zimmer öffnete und ihre Töchter hereinschwebten, leicht wie Feen. Es war schon nach drei Uhr, und der Oktobernachmittag zeigte sich kühl, immer wieder fiel sanfter, eintöniger Regen.
    Im Zimmer roch es nach Minztee. Otacília hatte ihreAquamarine auf die rissige Decke gerichtet. Ihre Töchter bemerkten nicht, wie ihr Bewusstsein sich für einen Moment vom Körper löste und zur Decke schwebte, sie nackt und bloß zurückließ wie ein Neugeborenes, und dann wiederkehrte.
    Der Prozess hatte begonnen. Die letzte Schlacht dieses langen stummen Krieges.
    Maria Inês nahm Otacílias Hände in ihre und sah den Schatten des Todes wie einen zarten Kuss auf der von Altersflecken gezeichneten Haut ihrer Mutter ruhen. Otacília zählte erst sechsundfünfzig Jahre, die jedoch irgendeiner perversen Mathematik unterworfen zu sein schienen.
    Über dem Ehebett aus massivem

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