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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Lisboa
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erreichten allmählich die Grenze der Dringlichkeit. Es war undenkbar, die Situation offen zu benennen ( Mama stirbt, komm schnell ), aber soweit es eine allumfassende Zensur erlaubte, die ihre Worte in Kapseln einschloss (oder sie zu niedlichen Wollpantoffeln machte, die in einer kalten Nacht ein Paar blasse Füßchen wärmten), wurde Clarice dringlich. Sehr dringlich.
    Ich glaube, ich muss hinfahren, sagte Maria Inês zu Tomás, während ihr schmaler Zeigefinger mit dem abgeknabberten Nagel einen schmalen Halbmond auf seinen schmalen Rücken malte.
    Sie war aufgestanden und hatte sich Slip und Minirock bereits angezogen, dann aber legte sie sich wieder neben ihn aufs Bett. Tomás hatte ein Räucherstäbchen angezündet und aß eine Tafel Schokolade. Dabei zeichnete er mit einem Kugelschreiber einen kleinen Elefanten auf das liniierte Papier seines Notizblocks. An der rechten Hand trug er einen silbernen Ring. Ein Geschenk von Maria Inês, dem er eine ganze Reihe von Bedeutungen zuschrieb.
    Sie drehte sich auf den Rücken, und Tomás sah ihre kleinen Brüste sich im Rhythmus ihres Atems heben undsenken, sanfte Meereswellen an einem windstillen Morgen. Die Liebe presste ihm die Brust zusammen wie ein Schraubstock. Maria Inês war überall mit Halsketten, Armbändern und Ringen behängt, in Kleidungsfragen pflegte sie einen entschiedenen Hippie-Stil. Sie hörten eine Platte von Os Mutantes. Der gelbliche Rest eines Joints lag auf einer Untertasse – diese winzigen Details.
    Natürlich musst du fahren, es ist deine Mutter, sagte er.
    Ich mag sie nicht, erwiderte Maria Inês, obwohl sie wusste, dass ihre Worte so nicht stimmten, dass sie die Wahrheit leicht verfehlten.
    Aber sie braucht dich. Sie ist krank. Sei nicht egoistisch.
    Sein Tonfall hatte etwas vom bemühten Wohlwollen einer müden, mit ihrem Gehalt unzufriedenen Grundschullehrerin. Maria Inês gefiel das nicht.
    Sprich nicht so mit mir.
    Tomás lächelte nur und griff nach ihrer Hand, um den Zeigefinger mit dem abgeknabberten Nagel zu küssen.
    Es war Oktober. Clarice und Ilton Xavier feierten ihren Hochzeitstag: den vierten. Zur allgemeinen Enttäuschung war noch kein Stammhalter unterwegs.
    Die Sonnabende waren anfangs der Tag des gemeinsamen Mittagessens mit Clarices Eltern gewesen. Doch in dem Maße, wie Otacília sich schwächer, erschöpfter, unpässlicher fühlte, wurde aus dem wöchentlichen Essen ein vierzehntägiges und dann ein monatliches.
    Otacília und Afonso Olímpio waren zunehmend ans Haus gefesselt und wirkten schon wie Möbelstücke, so sehr, dass niemand glaubte, sie könnten eines Tages sterben,trotz Otacílias rätselhafter Krankheit und ihrer Eisenund Vitaminpräparate. Es schien vorstellbar, dass Jahre und danach Jahrzehnte und schließlich Jahrhunderte vergehen würden, ohne dass Otacília und Afonso Olímpio sich groß veränderten – vielleicht nahmen sie nur allmählich die kupferne Farbe von Holz an. Oder verschwanden unter einer grauen Staubschicht aus Gleichgültigkeit. Doch sie würden dableiben, wenig atmen, wenig Luft und wenig Nahrung verbrauchen, nicht schlafen, nicht lächeln. Otacília würde die Ohren spitzen, um die Stimmen der Benteveos und Rotbauchdrosseln zu hören, die indes nichts Neues mitzuteilen hätten. Und Afonso Olímpio würde ohne Appetit auf den reich gedeckten Frühstückstisch blicken und die Knochen seiner Finger knacken lassen.
    Sie wären wie Feinde, die sich am Ende ihres Lebens im Unglück versöhnt haben.
    Die Wahrheit aber war, dass Otacília starb, und sie wusste es. Sie starb schnell. Ihre Haut wies inzwischen kleine rosafarbene Flecke auf, die sie an die Zeit erinnerten, als sie ein Kind gewesen war, das durch die Gärten lief und hinfiel. Sie litt unter Atemnot, manchmal erstickten die Wörter in ihrer Kehle, was ihr übliches Schweigen noch tiefer und in gewisser Weise grausamer machte. Ein Schweigen, das seine abwesenden Sätze benutzte, um sich ununterbrochen im Kreis zu drehen: sich anzuklagen, ihn anzuklagen. Ihn, Afonso Olímpio, ihren Ehemann und den Vater ihrer beiden Töchter. Und sich selbst. Vielleicht hatten sie sie ja verdient, die Schuld, selbst wenn dieDinge sich später geändert und eine scheinbar gute Richtung eingeschlagen hatten. Denn das Verdrängte war wie ein schlafender Vulkan, und weder sie, Otacília, noch ihr Mann oder ihre Töchter konnten ernsthaft erwarten, dass die Sache damit erledigt war. Im Innern der Erde tobte die brodelnde Lava. Sie wusste es.
    Maria

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