Der Sommer der Schmetterlinge
vielleicht konnte er nichts mehr tun, als mit seinen hellen Augen die Landschaft zu betrachten und alles als etwas Vergangenes anzusehen. Alles.
Oder fast alles.
Möglicherweise wusste Eduarda über mehr Dinge Bescheid, als sie sich anmerken ließ. Möglicherweise konnte sie sich etwa vorstellen, warum João Miguel mit solchem Eifer Tennisstunden nahm. Das jedenfalls kam Maria Inês in den Sinn, als Eduarda ihr, während sie zerstreut in ihrer Zeitschrift blätterte, in beiläufigem Ton plötzlich die Frage stellte: Und, werdet ihr euch trennen, du und Papa, wenn wir zurück sind?
Maria Inês war nicht überrascht. Sie sah einen überfahrenen Hund auf dem Randstreifen liegen und dachte, dass jemand das Tier dort wegschaffen, es begraben sollte.
Dann antwortete sie ruhig: Ja, vielleicht.
Eduarda schlug die Zeitschrift zu und seufzte. Weißt du, ich finde das gar nicht so traurig, nein. Es ist seltsam. Ich glaube, ihr habt kein gutes Leben geführt. Klar, es gibt Leute, die ein viel schlechteres Leben führen. Ich meine, ihr streitet nicht, ihr schreit euch nicht an. Aber das genügt nicht, oder?
Vielleicht trennen wir uns, wiederholte Maria Inês nur. Ich weiß noch nicht. Ich weiß nicht, was João Miguel zu alldem zu sagen hat.
Und dann dachte sie wieder an Tomás.
NEUN UHR
(BRASILIANISCHER SOMMERZEIT)
Der Tod in Venedig lag immer noch an derselben Stelle, und alles, was Clarice von dem Buch kannte, war die Anfangsbeschreibung (die Prinzregentenstraße und so weiter). Gerade erinnerte sie sich an eine Ansichtskarte, die Maria Inês ihr aus Venedig geschickt hatte. 1980? 1982? Die Jahreszahlen waren nicht mehr so wichtig (wie in Der Tod in Venedig : 19…). Die Karte gab es nicht mehr, Clarice hatte sie wahrscheinlich weggeworfen, gemeinsam mit vielen anderen Dingen, die sie im Laufe ihres Lebens weggeworfen hatte.
Jemand ging die Landstraße entlang, ein Mann. Er sah aus wie Tomás, es musste Tomás sein. In den Bäumen zirpten die Zikaden. Clarice dachte an die Fabel von der Grille und der Ameise und daran, wie sie sich als Kind verzweifelt mit der Ameise identifiziert hatte und wie sie inzwischen dazu übergegangen war, sich in der Grille wiederzuerkennen. Warten, dass der Winter kam. Verhungern, wenn es unvermeidlich war. Vorher aber einen ganzen Sommer, einen einzigartigen Sommer lang mit der Hingabe einer Zikade das eigene Lied singen.
Die Acht-Uhr-Sonne (neun Uhr brasilianischer Sommerzeit) ergoss sich über den Berg, hinter dem das Haus Ilton Xaviers (wo die zahlreichen Säle weiterhin Namentrugen) und seiner verwitweten Mutter stand: Jetzt war er der Mann im Haus. Der Familienvorstand. In der zurückliegenden Woche war Clarice dort vorbeigegangen, hatte Roseana freundlich gegrüßt, die zweite und dauerhafte Ehefrau, die Hand in Hand mit ihrer kleinen Tochter die Straße entlangkam. Und hatte gesehen, dass das Haus neu gestrichen wurde, natürlich in den Originalfarben. Hinterher erfuhr sie, dass eine Gruppe Wissenschaftler ein Buch über die kolonialen Kaffeeplantagen der Gegend vorbereitete und Ilton Xaviers Besitz fotografieren wollte. Obwohl es dort keinen einzigen Kaffeestrauch mehr gab.
Clarice hörte das Geräusch von Schubladen, die geöffnet und geschlossen wurden. Wahrscheinlich verstaute Fátima die verstaubaren Dinge, die normalerweise unaufgeräumt herumlagen.
Sie hatte die restliche Nacht nach ihrem Besuch bei Tomás damit verbracht, sich an ihre Ehe mit Ilton Xavier zu erinnern, auch wenn das nicht viel bedeutete oder vielleicht gerade deshalb. Als Fátima früh am Morgen zum Saubermachen gekommen war, hatte sie Clarice im Garten angetroffen, wie sie mit abwesender Miene Blätter aufsammelte, die von einer Platane gefallen waren.
Heute ist also der große Tag, sagte sie in der Annahme, dass Clarice sehr glücklich über den Besuch ihrer Schwester sein müsse. Nach all den Jahren.
Fátimas Haar war mit künstlichen Zöpfen geschmückt, die zu fixieren etwa acht Stunden in Anspruch nahm und normalerweise sehr teuer war. Doch Fátima war mit einerFriseuse aus Friburgo befreundet, die ihr umsonst dabei zur Hand ging. Sie trug ihre übliche Arbeitskleidung: knappe Shorts aus grober Baumwolle, unter denen ihre kräftigen dunklen Beine zum Vorschein kamen, dazu blaue Flip-Flops und ein ausgeleiertes T-Shirt, auf dessen Vorderseite die Wörter Boston, Massachusetts standen. Fátima hatte nicht die geringste Ahnung, dass sie sich auf einen Ort bezogen, wo andere Menschen ebenfalls
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