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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Lisboa
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zu einem fernen Tag zurückreichte, an dem ihr ein paar Zypressenzapfen aus der Hand gefallen waren. Dem Tag, an dem sie aufgehört hatte, ein Kind zu sein – weil sie es gesehen hatte.
    Ihren Vater. Ihre Schwester.
    Maria Inês fuhr mit der Geschichte fort, und nachdem er sie gehört hatte, war auch Tomás nicht mehr derselbe. Er nahm Maria Inês in die Arme und schenkte ihr seine traurige, unerwiderte Liebe. Ein weiteres Mal.

DER FADEN DER ARIADNE
    Zur Enttäuschung der Stimme in Clarice, die gern negativ über Maria Inês urteilte und das genau proportional zur materiellen Situation ihrer Schwester tat, zeichnete sich das Auto, das am späten Vormittag leise angerollt kam, nicht durch den pompösen Luxus eines Importwagens aus. Es war ein Fahrzeug, wie es die Mittelschicht fuhr. In metallischem Grün, das die Sonne spiegelte. Unerbittlich, ohne es sein zu wollen, dachte Clarice jedoch: Ihr Mann hat gewiss noch ein anderes. Ein SUV natürlich. Oder einen von diesen riesigen Jeeps, die sich die Fußballspieler, Telenovela-Schönlinge und Sambasänger immer kaufen, sobald sie zu Geld kommen.
    So viele Jahre, und sie dachte über Autos nach. Clarice schämte sich und begrüßte ihre Schwester und ihre Nichte mit Umarmungen, die unbeschriebene Blätter sein wollten. Reine, offene, unschuldige Umarmungen.
    Sie wechselten formelhafte Worte, aus Angst, dass jede Aufrichtigkeit zu rührselig wirken könnte. Oder zu aufrichtig. Wie war die Fahrt? Gut, danke. Mein Gott, hier hat sich alles so verändert, die Bäume sind größer geworden. Du siehst klasse aus. Danke, du auch. So viel Zeit. Das stimmt. Hilfe, wie Eduarda gewachsen ist. Wollt ihrnicht reinkommen? Euer Gepäck ausladen? Ich hole Fátima, sie wartet schon sehnsüchtig auf euch.
    Maria Inês hielt einen Augenblick auf der Veranda inne und atmete tief durch, bevor sie das Haus betrat. Über den roten Zementboden lief ein schmaler zickzackförmiger Riss von der Hauswand zur Grasfläche des Gartens. In dem entstandenen Zwischenraum wuchsen kleine Pflanzen, ein bis zwei Zentimeter hoch. Ein Miniaturwald für Spinnen und Ameisen. An der Straße haben wir Tomás getroffen, sagte sie, ohne sich zu Clarice umzudrehen. Sie bemühte sich, den Satz beiläufig klingen zu lassen, und sah sich, die Hände in die Hüften gestützt, weiter um. Dann fügte sie mit jener Leichtfertigkeit, die ihr häufig als Selbstschutz diente, hinzu: Nicht zu fassen, wie viel besser die Männer altern als wir.
    Eduarda hatte sich hingehockt und streichelte einen kleinen Pudel, bei dessen bräunlichem Fell man nicht entscheiden konnte, ob die Farbe angeboren oder das Ergebnis jahrelanger Dreckablagerungen war.
    Fátima erschien in der Tür, trocknete sich die Hände an ihrem T-Shirt und begann, um Maria Inês und Eduarda herumzuspringen, als wäre sie ebenfalls ein kleines Hündchen. Sie umarmte Eduarda lange und sagte: Mein Gott, das letzte Mal, als ich dieses Mädchen gesehen habe … Wie alt warst du da, Kleine? Acht Jahre? Neun? Bitte kommt rein, ihr Lieben. Gebt mir eure Taschen.
    Sie hatte einen Marmorkuchen gebacken, frischen Kaffee gekocht und einen Krug mit Pitanga-Saft vorbereitet. Jetzt deckte sie den Tisch.
    Schwer zu glauben, dass alles noch da war. Der verstellbare senffarbene Sessel. Der Kamin mit den Holzscheiten davor, der eiserne Feuerhaken, der an einem eisernen Ständer hing. Derselbe Teppich wie früher und an der Wand dasselbe Porträt von Otacília als Braut. Clarices Anwesenheit in all den Jahren hatte sich kaum ausgewirkt. Nur ein kleines Zeichen war sichtbar, das Buch auf dem niedrigen Tisch: Thomas Mann, Der Tod in Venedig .
    Schnell reihte Maria Inês Assoziationen aneinander. Sie sprach den Titel Der Tod in Venedig laut vor sich hin – sie hatte das Buch nicht gelesen, aber durch den Film von Visconti war es ihr ein Begriff – und erinnerte sich an den Markusplatz voller Tauben, an einen Laden, in dem sie Postkarten gekauft hatte, und an einen hübschen Italiener namens Paolo. Der stehend saß .
    Ich versuche gerade, es zu lesen, sagte Clarice. Aber mein Kopf leistet nicht viel in Sachen Konzentration. Hast du es schon gelesen?
    Maria Inês verneinte und blickte sich weiter um. Die Gespenster waren nicht mehr da. Alles unverändert, alles anders. Das Haus ähnelte dem Gefühl, das sie nach einem Migräneanfall hatte: eine leere Erleichterung, das schmerzhafte Fehlen des Schmerzes. Ein schreckliches Gefühl, das verschwindet, das gute Gefühle mit sich reißt und

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