Der Sommer der Schmetterlinge
übrig, als eine Plastiktütezu verwenden. Der Reisende im Sitz vor ihr drehte sich um und warf ihr einen missbilligenden Blick zu, als hätte sie die moralische Pflicht, auch noch diesen spontanen Reflex zu unterdrücken – so wie alles andere. Sie reinigte ihren Mund mit einem weißen Batisttuch, das sie in der Tasche trug. Es war mit ihren Initialen bestickt: ein Geschenk Ilton Xaviers.
Als sie in Friburgo ausstieg, wusste sie nicht mehr, wie spät es war. Sie hatte nicht die Absicht, Mittag zu essen, war jedoch durstig. In einer Bäckerei verlangte sie eine Flasche Mineralwasser mit Kohlensäure. Sie trank, fühlte sich aber immer noch ausgetrocknet. Und verdreht. Und so ohne Bezug zu allem, als wäre sie ein Gespenst. Plötzlich dachte sie, dass ihre Hand durch das Glas der Verkaufstheke greifen könne, wenn sie es berührte. Doch das geschah nicht. In diesem Moment betrat ein Gutsherr aus der Gegend von Jabuticabais den Bäcker, erkannte Clarice und begrüßte sie.
Guten Tag, Dona Clarice. Sind Sie allein?
Mit einiger Anstrengung nickte sie, brachte ein Lächeln zustande und gab ihm eine vernünftige Erklärung, indem sie sagte: Ich bin zum Einkaufen hier.
Er lachte und sagte: Dann war es richtig, allein zu kommen. Meine Frau sagt immer, dabei würden die Männer bloß stören.
Dann küsste er ihr die Hand: Guten Einkauf, viele Grüße an Ihren Ehemann und die Schwiegereltern.
Während sie den Bekannten hinausgehen sah, krampfte sich ihr Magen abermals zusammen. Als würde die Szenevon einem auf jede Einzelheit bedachten Filmregisseur gelenkt, ertönte wenige Sekunden später eine Stimme in ihrem Rücken. Ich kenne dich, sagte die Stimme, und Clarice drehte sich um. Hinter ihr stand eine Frau in den Dreißigern. Eine Frau, die einmal hübsch gewesen sein musste, die ihre Schönheit aber jetzt wie ein Geheimnis hinter tiefen Augenringen, einer erschreckenden Magerkeit und schlechtsitzenden Kleidern verbarg.
Ich kenne dich, wiederholte sie und zog danach in aller Ruhe an ihrer Zigarette, stieß den Rauch aus und trank einen Schluck Limonade. Du bist die Tochter von Afonso Olímpio und Otacília. Von der Fazenda Santo Antônio.
Clarice starrte auf die Brauseflasche und dachte über den Slogan nach: Thirsty or not, Grapette Soda has always hit the spot . Sie wollte etwas sagen, brachte aber nur ein Seufzen hervor. Ihr Kopf tat weh.
Du siehst furchtbar aus, sagte die Frau. Und natürlich erinnerst du dich nicht an mich.
Thirsty or not …
Sie kam näher.
Ich bin Lindaflor. Bestimmt erinnerst du dich an die Ipê-Fazenda und an das, was dort 1962 geschehen ist. Mein Gott, Mädchen, du bist ja ganz grün im Gesicht! Hier, nimm einen Schluck Brause.
Nein, danke, sagte Clarice. Ich bin gerade erst mit dem Bus angekommen, und mir ist noch etwas übel. Entschuldige, dass ich dich nicht erkannt habe. Als wir uns zuletzt gesehen haben, war ich wohl noch sehr klein.
Das war ich auch, aber du hast dich überhaupt nichtverändert. Du hast immer noch das Kindergesicht von früher. Oh, entschuldige, das sollte keine Beleidigung sein, ich finde es toll. Wir beide müssen ungefähr das gleiche Alter haben, und sieh mich an. Ein Wrack. Damals hattest du eine jüngere Schwester.
Sie lebt in Rio. Hat vor zwei Monaten geheiratet.
Du hast auch geheiratet.
Ja, stimmt. Aber heute trenne ich mich.
Herrje, dann machst du deshalb so ein Gesicht, folgerte Lindaflor irrtümlich. Wo wirst du hier in Friburgo unterkommen?
Ich weiß nicht. Ich muss ein billiges Hotel finden. Oder vielleicht eine Pension.
Warum gehst du nicht nach Rio und wohnst bei deiner Schwester?
Nein. Ich mag ihren Mann nicht. Und er mag mich nicht. Außerdem muss ich mich auch von ihr eine Weile fernhalten.
Und deine Eltern?
Sind gestorben. Mein Vater im letzten Jahr. Meine Mutter vor zwei Jahren.
Verstehe. Du brauchst einen Tapetenwechsel, nicht wahr? Ich kenne da eine nette Pension. Sie ist in meiner Straße. Soll ich dich hinbringen?
Lindaflor wartete nicht auf eine Antwort, sondern holte aus ihrer Tasche ein paar zerknitterte Scheine, um die Grapette zu bezahlen, und schenkte Clarice ein zutrauliches Lächeln.
Genau in diesem Moment begab sich Clarice – ähnlichwie bei einer Achterbahn – auf eine abschüssige Strecke, die sie bis in die Hölle führen sollte. Und zu der scheinbaren Erlösung durch zwei identische Schnitte mit einem Olfa-Messer, jenem Olfa-Messer, das sie auf einem abgenutzten Holztisch fand, auf den jemand mit blauem
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