Der Sommer der Schmetterlinge
Inês im Korridor ihre Zypressenzapfen fallen ließ, ihre kostbaren Zypressenzapfen. Jenen unhörbaren Schrei, dereinem den Magen zusammenzog vor Schmerz, Mitleid und Hass.
Vergessen. Gründlich. Alles, was in einem chaotischen Kreistanz durch ihr Gedächtnis wirbelte: die fünf langen Jahre in Rio de Janeiro bei Großtante Berenice, ihre Freunde aus Kindertagen und das Mädchen Lina, die Briefe an Ilton Xavier, die Hochzeit mit Ilton Xavier, die Hochzeitsnacht. Und die Flaschen mit alkoholischen Getränken, die später folgten, die feinen Liköre, die freundlichen Schnäpse. Weine, Whisky. Betäubend, angenehm wie ein leichter Abendwind, wie die vagabundierenden Geister der Nacht.
Es war kurz nach ihrem Geburtstag, im Februar. Der erste Sommer nach dem Tod des Vaters. Clarice betrat ihr Zimmer und ging zur Frisiertoilette, um im Spiegel nachzusehen, wie sehr sie sich verändert hatte. Sie konnte nichts entdecken. Dann dachte sie an Lina und ihr Tuch mit den ausgeblichenen roten Rosen, schmutzig vom Schlamm.
Ilton Xavier war nicht da, auch seine Eltern nicht. Clarice hatte allein an dem großen, im 19. Jahrhundert von Sklaven gefertigten Tisch aus Jacarandaholz gefrühstückt. Danach war sie eine Weile durch das Herrenhaus gestreift, wobei sie mehrfach mit der Angestellten zusammenstieß, die die langen, abgenutzten Dielen des Fußbodens fegte.
Ihr Zimmer war noch nicht aufgeräumt worden, die Fensterläden waren immer noch geschlossen. Clarice schaltete kein Licht an, öffnete die Läden nicht. Im Spiegeldes Frisiertisches erkannte sie ihr im Schatten liegendes Gesicht. Sie zog ihren Ehering vom Ringfinger und ließ ihn auf den Mittelfinger gleiten. Auf den Zeigefinger, wo er ihr zu eng war. Auf den Daumen, auf den er nur bis zur Hälfte passte. Dann legte sie ihn auf den Tisch, zwischen einen Flakon mit Kölnisch Wasser und ein Töpfchen mit Reispuder.
Es war an der Zeit. Clarice öffnete den Schrank und suchte ein paar Kleidungsstücke aus. Wenige. Sie konnte Otacílias Stimme hören, wie sie sagte: Nur einen Koffer. Außerdem nahm sie etwas Geld, ohne zu zählen, wie viel es war. Sie trat an die Kommode, auf der eine dunkle Flasche stand. Am Abend zuvor hatte Ilton Xavier sich ein oder zwei Gläser daraus eingeschenkt, während er ein Buch von Georges Simenon las. Auf dem Boden des zarten Kristallglases zeichnete sich ein kleiner beigefarbener Kreis ab. Sie hob die Flasche hoch und las: Irish Cream . Goss ein bisschen ins Glas und trank.
Bevor sie das Zimmer verließ, nahm sie den Ring vom Frisiertisch und steckte ihn ein. Sie ging ins Bad, klappte den Klosettdeckel hoch, kniete sich auf den Boden und erbrach sich. Dabei weinte sie unbeabsichtigte Tränen, die weder Ilton Xavier galten noch ihrer Ehe, die nun ans Ende gelangt war. Weder den Kindern, die sie nicht gehabt hatte, noch Lina.
Dann ging sie. Die Hausangestellte sah sie vorbeikommen, einen kleinen Koffer in der Hand. Sie starrte sie an und lief in die Küche, um es den anderen zu erzählen. Unterdessen hielt Clarice einen Angestellten im Garten anund sagte: Duílio, du musst mir einen Gefallen tun, mach bitte den Tilbury fertig und bring mich nach Jabuticabais.
Duílio holte die Kutsche, und Clarice sprach auf dem ganzen Weg kein Wort. In der Stadt verabschiedete sie ihn mit einem Trinkgeld und einem Händedruck. Fahr schon, Duílio, ich weiß, dass du noch viel zu tun hast.
Und wie kommen Sie zurück?
Nachher nehme ich ein Taxi, log sie.
Clarice kam nie wieder zurück.
Die Stadt roch nach Sonne. Es war schon zehn Uhr. Während sie mit dem Koffer zum Busbahnhof ging, spürte sie, wie ihr Nacken feucht wurde vom Schweiß. Sie kaufte ein Ticket für den Bus um halb zwölf nach Friburgo. Dann spazierte sie zu dem baumbestandenen Hauptplatz und setzte sich auf eine der grüngestrichenen Bänke, die den Musikpavillon umgaben. Um zu warten.
Um zu warten und mit Widerwillen ihre eigenen Hände zu betrachten. Danach mit Bedauern. Danach mit Liebe. Es gelang ihr nicht, aus sich selbst herauszutreten und sich der Geschichte auf andere Weise zu nähern. Clarice war Zeuge, Opfer und Henker zugleich.
Sie war es, die nie hätte geboren werden dürfen. Die eine Familie zerstört hatte und nun dabei war, eine zweite zu zerstören.
Aber das war natürlich nur eine der vielen Möglichkeiten, die Dinge zu sehen.
Der Bus schaukelte ziemlich stark auf der Fahrt. Clarice musste sich erneut erbrechen, und da es keine Toilette gab, blieb ihr nichts anderes
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