Der Sommer der Schmetterlinge
der Wand bröckelt. Und dann ging sie, verließ Ilton Xavier und den Teil ihrer selbst, der bis dahin noch hatte überleben wollen.
In jenem August der Trauer aber war sie noch fügsam, zurückhaltend, demütig, wohlerzogen, höflich, verschwiegen, anbetungswürdig. Trank noch nicht und schnupfte kein Kokain. Rieb nur Kokos für den Quindim-Pudding. Eine schwarze Katze mit weißer Brust und weißem Gesicht saß neben dem Holzfeuerherd und leckte sich die rechte Pfote. Etwas später am Tag rief Clarice ihre Schwester zu sich und bat sie: Maria Inês, kannst du für mich das Nachlassverzeichnis übernehmen? Mit Hilfe von João Miguel, er ist schließlich Anwalt.
Natürlich, antwortete Maria Inês, natürlich kann ich das.
Schließlich war João Miguel Anwalt. Und hatte ihr gerade mit einem wunderschönen, in Venedig gekauften Ring einen Heiratsantrag gemacht.
Nicht durch Maria Inês erfuhr Tomás von Afonso Olímpios Tod, sondern durch ihre Großtante Berenice, die ihm die Nachricht schluchzend mitteilte, wobei ihre weichen Wangen und ihr Doppelkinn bebten. Sofort nahm er einen Bus und fuhr nach Friburgo und von dort mit einem anderen Bus über Dutzende Zwischenstationen nach Jabuticabais. In Jabuticabais nahm er ein Taxi, das ihn zur Fazenda brachte. Auf der Fahrt dorthin hatte er das Gefühl, die erste Liebesbegegnung mit Maria Inês in gewisser Weise zu wiederholen. Er bewegte sich auf Neuland, versuchte, eine Unbekannte zu erobern, eine zweite Maria Inês, eine Welt, die intimer war als alles Körperliche, das sie geteilt hatten.
Ihr Reich. Ihre Seele.
In diesem Augenblick überkam ihn die Melancholie der unerwidert Liebenden, und er hätte dem Fahrer den Befehl zum Wenden geben können (müssen). Er hätte den Rückweg nach Jabuticabais und nach Friburgo und schließlich nach Rio de Janeiro einschlagen können (müssen), zurück in seine Wohnung, wo seine Leinwände auf ihn warteten. Doch er setzte die Reise fort.
Bei der Totenwache lernte er Clarice kennen. Sie saß allein auf der letzten Stufe der Treppe, die von der Hauptstraße von Jabuticabais zum Eingang der Kirche hinaufführte. In der Kapelle umringte eine kleine Menschenansammlung den Sarg, in dem Afonso Olímpios Leichnam ruhte.
Der Sarg war zu. Man sah nichts. Nicht die zusammengestauchten Hände und nicht das ausdruckslose Gesicht. Nicht den zerschmetterten Schädel, der nicht mehr blutete, und nicht die gebrochenen Glieder. Die Leute mussten glauben, dass sich ein Verstorbener darin befand. Und dass der Verstorbene Afonso Olímpio war.
Aus Solidarität hatten Ilton Xaviers Eltern der Polizei Geld gegeben, damit der Tote nicht obduziert wurde. Damit er nicht nach Friburgo geschickt werden musste, oder vielleicht sogar nach Rio de Janeiro. Aber das war geheim. Eine verbotene Angelegenheit.
Als Tomás Clarice zum ersten Mal sah, saß sie also auf jener Treppenstufe vor der Kirche. Sie trug ein Kleid wie eine alte Frau. Ganz und gar schwarz. Dazu schwarze Schnallenschuhe ohne Strümpfe. Das schwarze Haar warmit schwarzen Klemmen zu einem Knoten aufgesteckt. Ihr Gesicht dagegen war totenbleich. Sie hatte keine dunkle Brille auf, so dass Tomás ihre Augen sehen konnte.
Sie waren trocken.
Wie die Augen von Maria Inês: trocken. Merkwürdig trocken. Und von Leere und von Schweigen getrübt.
Maria Inês näherte sich gerade ihrer Schwester, als sie Tomás die Treppe hinaufgehen sah. Du hier, sagte sie bloß, in einem Ton, der weder Erleichterung noch Ablehnung, weder Tadel noch Dankbarkeit zum Ausdruck brachte. Einzig Leere und Schweigen und trockene Augen. Sie nahm Clarices Hand, doch Clarice blieb sitzen und hob nur den Kopf, um zu sehen, wer da kam.
Deine Großtante hat mir Bescheid gesagt, sagte Tomás.
Einen Moment lang sahen die drei sich an und stießen dabei auf viele offene Fragen. Erst zwei Jahrzehnte später sollten sie sich so, zu dritt, wiederbegegnen (während Eduarda in ihrem Zimmer schlief und einen Traum träumte, in dem Miss Misery erklang, und João Miguel in zehntausend Metern Höhe in seinem Sitz der Business Class vor sich hin döste).
Mit langsamen Schlägen seiner breiten Flügel flog ein Reiher niedrig über sie hinweg. Dann kam ein feiner Nieselregen auf, der eher aus Staub denn aus Wassertropfen zu bestehen schien.
Das ist Clarice, meine Schwester, sagte Maria Inês. Mit leiser rauer Stimme, einer Altstimme. Clarice, das ist Tomás, von dem ich dir erzählt habe.
Sie gingen hinein.
Das Kircheninnere roch nach
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