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Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)

Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Howells
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sich zu lassen.
    Einmal im Wasser, schwamm ich hinaus, weg vom Strand in Richtung Horizont. Ich stellte mir vor, hinter mir wäre nichts: keine Häuser, keine Partys, keine Corinne, nur ich, die im Wasser trieb wie ein Stück Seegras, unbedeutend, nur ein kleiner Fleck irgendwo im Meer.
    Ich schwamm, bis meine Muskeln brannten, und als ich zurück an Land watete, war ich angenehm müde. Wenn der Stand nur immer so leer gewesen wäre! Dann hätte es mich nicht zu kümmern brauchen, wie ich aussah, und ich hätte mich mit niemandem vergleichen müssen.
    Als ich so dasaß und meine Haare mit einem Handtuch trockenrieb, beobachtete ich zwei Spaziergänger in der Ferne. Sogar von weitem konnte man erkennen, dass es ein Mann und eine Frau waren. Irgendwann reichten sie sich die Hände, und ich war neidisch, eine einsame Beobachterin. Zugleich erlebte ich eine Art Déja-vu. Im ersten Moment wusste ich nicht, warum mir diese Szene so vertraut und bedeutungsvoll erschien. Das Paar entfernte sich immer weiter, bis nur noch zwei Punkte neben der blassen Gezeitenlinie zu sehen waren – fast reglos, wie auf einem Gemälde. Und da fiel es mir wieder ein …

    »Dieses hier heißt Green Sea , hatte Miss Elliot erklärt und unserer Gruppe bedeutet, sich um sie zu scharen. Wir waren auf einer Klassenexkursion im Kunstmuseum von Atlanta, und der Rundgang neigte sich dem Ende zu. Es war ein langer Tag gewesen; schon früh am Morgen waren wir mit dem Bus aufgebrochen. Ich unterdrückte ein Gähnen, während ich der Stimme von Miss Elliot lauschte. Ich war keine große Kunstliebhaberin, deshalb ließ ich es zu, dass Jake mich hinter Pfeiler und in Treppenhäuser zog, während Miss Elliot uns durch Säle mit Gemälden europäischer Meister und zeitgenössischen Skulpturen führte. Gewiss war all das bedeutsam, aber nichts erschien mir bedeutsamer als Jakes Lippen, die meine suchten, seine Hände in meinen Haaren. Wir waren seit einem Monat zusammen, und ich wollte nichts lieber, als ihn zu küssen.
    » Green Sea wurde 1958 von dem amerikanischen Künstler Milton Avery gemalt«, verkündete Miss Elliot, als ich eine Lücke in dem Meer der Köpfe vor mir suchte, um einen Blick auf die Leinwand zu erhaschen.
    » Green Sea wurde von einem Stümper gemalt«, flüsterte Jake scherzhaft und legte seine Hand von hinten um meine Taille. »Komm schon«, wisperte er mir ins Ohr. »Lass uns dieses Meisterwerk überspringen.«
    Doch mich faszinierte das Gemälde. Es war ein einfaches Landschaftsstück, zweigeteilt von einer diagonalen Linie, fahler Sand auf der linken, dunkelgrüne, von weißer Gischt gekrönte Wellen auf der rechten Seite, darüber ein schmaler Streifen Himmel. Im Zentrum bewegten sich zwei verwischte Gestalten den Strand entlang.
    Die Farben des Sandes und der Meereswellen ergriffen mich wie eine Erinnerung, als sei ich selbst in diesem Gemälde gewesen. Ich kannte jede einzelne Schattierung. Ich lächelte und dachte an den Sommer, der vor mir lag. Das Meer vor dem Haus meines Onkels und meiner Tante sah an einem windigen Tag genauso aus. Die Figuren auf dem Bild waren kaum mehr als Pinseltupfer, doch als sie auf mich zuspazierten, sah ich in ihnen Jake und mich, wie wir an Wind Song vorbeigingen, die weißgekrönten Wellen auf der einen, eine schimmernde Decke hellen, blassen Sandes auf der anderen Seite. Zwei Gestalten eng beieinander an einem ansonsten verlassenen Strand.
    Ich drückte Jakes Hand, und eine Idee nahm in meinem Hinterkopf Gestalt an: Vielleicht, vielleicht, könnte Jake uns ja in diesem Sommer in Wind Song besuchen. Vielleicht würden unsere Eltern erlauben, dass er gegen Ende unseres Urlaubs hinaufkam, so dass Corinne und mir genügend Zeit für uns blieb, aber auch Gelegenheit wäre, meinen neuen Freund der Verwandtschaft vorzustellen …
    »Wie findet ihr es?«, fragte Miss Elliot die Gruppe.
    »Ich finde, mein Hund kann besser malen«, spöttelte Jake. Alle lachten. »Im Ernst«, fügte Jake hinzu, »der Typ hat es ja nicht mal geschafft, seinen Figuren Gesichter zu verpassen. Und trotzdem ist er jetzt total berühmt? So ein Quatsch!«
    »Möchte irgendjemand Jake etwas erwidern?«, fragte Miss Elliot und blickte sich um. »Welchen Effekt hat es, wenn man die Figuren so unpersönlich belässt? Oder glaubt ihr, Avery konnte einfach nicht anständig malen?«
    Bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte ich das Wort ergriffen. »Ich finde es gut, dass man nicht genau erkennen kann, wer die Leute sind«, erwiderte

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