Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
bis nach Southampton. Dort bog ich willkürlich in Straßen ein, passierte kleine Häuschen, versuchte, einen Blick auf große Villen hinter manikürten Ligusterhecken zu erhaschen, und hielt inne, um alte Häuser wie Wind Song mit Schindeldächern, breiten Veranden und Hängekörben voller Geranien zu bewundern.
Ich fuhr weiter über Dämme und in Sackgassen hinein, blickte über Meeresarme und Teiche und besichtigte großartige alte Häuser und glamouröse neue, die sich bis hinunter zum Wasser erstreckten. Ich verfuhr mich absichtlich und kehrte dann auf demselben Weg zurück, bis ich Straßen fand, die mir bekannt vorkamen. Es war ein großartiges Gefühl, ziellos durch die Landschaft zu sausen. Und für kurze Zeit fühlte ich mich nicht mehr einsam, sondern frei.
Als ich zurückkehrte, lagen die Mädchen in Morgenmänteln und mit dunklen Sonnenbrillen auf Liegestühlen und schlürften Tomatensaft. Corinnes sogenannte Freundin Stacy, die gestern Abend versucht hatte, mich zu beleidigen, hatte in Wind Song übernachtet. Doch sie wirkte inzwischen ganz friedlich und beugte sich schnell zu ihrem Glas Tomatensaft, als sie mich sah. Offenbar war ihr die Erinnerung daran peinlich, wie sie meine Heimatstadt als langweiliges Nest bezeichnet und sich dabei nur selbst lächerlich gemacht hatte.
Mom und Tante Kathleen waren in die Bibliothek gegangen, und unsere Väter brachen gerade zum Angeln auf. »Hat irgendjemand Lust, mitzukommen?«, fragte mein Vater, und ich wusste, dass er mich meinte. Ich gehe wahnsinnig gerne angeln, habe aber nur selten die Gelegenheit dazu.
Doch weil ich nicht ungesellig erscheinen wollte, schüttelte ich den Kopf. »Nein, schon okay«, sagte ich und lächelte den anderen Mädchen zu. Heute war ein neuer Tag, und nachdem ich beim Radfahren meine schwarzen Gedanken abgeschüttelt hatte, fühlte ich mich erfrischt und versöhnlich. Man hatte mich gestern Abend stehen lassen. Na und? Der Sommer hatte gerade erst begonnen. »Möchte jemand schwimmen gehen?«
»Autsch!« Gen legte die Hand an den Kopf. »Könntest du deine Lautstärke ein bisschen senken, Mia? Die eine oder andere von uns ist heute etwas angeschlagen.«
»Sorry«, murmelte ich und unterdrückte ein Kichern. Die Mädchen sahen lustig aus, als hätten sie sich für eine Szene in einem alten Film verkleidet. Sie trugen seidene Turbane und riesige Jackie O.-Sonnenbrillen und hielten sich kalte Gläser an die Stirn, extravagant verkatert.
Kaum waren die Väter gegangen, zündete sich Gen eine Zigarette an, und Eva erschien in einem Hannah-Montana-Badeanzug und einem von Moms großen Strohsonnenhüten. »Genny, gehst du mit mir schwimmen?«, fragte sie und ignorierte mich vollkommen, ebenso wie ich sie.
»Mein Gott!«, stöhnte Gen und fasste sich verzweifelt an die Stirn. »Schrei hier bitte nicht so rum, Eva-Schätzchen, ja? Lauf und such dir eine paar andere Kinder zum Spielen. Bitte!«
Eva blinzelte. »Seid ihr krank?«, fragte sie unsicher und sah von Gen zu Corinne und dann zu Beth und Stacy.
»Nein, sie sind nicht krank«, flüsterte ich Eva zu. »Sie sind nur müde. Komm, ich gehe mit dir schwimmen, wenn du magst.«
»Aber ich will, dass Gen mit mir geht!«, schmollte Eva. »Sie hat es mir versprochen!«
»Eva!«, tadelte ich sie gereizt. »Nein heißt nein, das musst du mal akzeptieren!«
Eva verzog sich beleidigt ins Haus, und Gen warf mir einen dankbaren Blick zu. »Sie ist sehr anspruchsvoll, oder?«
»Daran ist meine Mutter schuld«, antwortete ich seufzend. »Sie verwöhnt sie total.«
»Gott sei Dank haben sich meine Eltern nicht weiter vermehrt«, bemerkte Gen und verzog das Gesicht. »Kinderfernsehen am frühen Morgen, nicht auszudenken! So was schadet bloß meinem Teint.« Sie füllte ihr Glas auf und rückte ihre Sonnenbrille zurecht. »Heute muss ich jeglichen Stress vermeiden.«
Reden die immer so geschwollen daher?, fragte ich mich nicht zum ersten Mal. Gen benahm sich derart affektiert, dass es schon absurd und – so musste ich zugeben – auch irgendwie unterhaltsam war. Doch später, als sich endlich alle an den Strand geschleppt hatten und dort schlapp wie Stoffpuppen herumlagen, verschlechterte sich ihre Laune, und sie reagierte Eva gegenüber noch gereizter.
»Hau bloß ab mit dem blöden Vieh!«, motzte sie, als Eva ihr eine kleine Krabbe zeigen wollte. »Eva, du bist eine solche Nervensäge, ich kriege bohrende Kopfschmerzen, genau hier!« Theatralisch presste sich Gen beide Schläfen.
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