Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
ich und schlüpfte aus Jakes Umarmung. »Auf die Art kann man die eigene Phantasie spielen lassen, sich vielleicht selbst in das Bild hineinversetzen. Man kann sich sozusagen aussuchen, wen diese Figuren darstellen, und der Strand jeder x-beliebige sein, den man darin zu sehen wünscht.«
»Das ist eine sehr gut durchdachte Interpretation, Mia«, sagte Miss Elliot und nickte mir zu. »Eine der interessanten Seiten an Milton Avery ist die Spannung zwischen dem Abstrakten und dem Gegenständlichen in seinen Arbeiten«, fuhr sie fort. »Wir erkennen die Formen, aber sie lösen sich vom Realismus. Avery wollte nicht fotografisch malen. Er wollte versuchen, etwas anderes, etwas Neues zu erschaffen.«
»Das würde mein Hund auch sagen«, entgegnete Jake, und wieder ertönte allgemeines Gelächter. Ich lächelte schwach, doch obwohl mich Jakes lustige Seite immer bezaubert hatte, nervte sie mich dieses Mal. Dabei wusste ich nicht einmal genau, warum.
Während Miss Elliot weiter über Milton Avery und seine bahnbrechende Technik der einfachen Formen und Farbflächen dozierte, sowie darüber, wie sehr ihn friedliche, sommerliche Szenen am Meer faszinierten und spätere abstrakte Künstler seine Werke bewundert hätten, durchfuhr mich plötzlich Traurigkeit. Eine Art Wehmut, wie man sie empfindet, wenn der Sommer vorüber ist. Irgendwie wusste ich schon zu diesem Zeitpunkt – tief im Inneren, ohne mir dessen ganz bewusst zu sein –, dass Jake und ich nicht zusammen am Strand bei Wind Song spazieren gehen würden. Das war eine reine Wunschvorstellung, die niemals Wirklichkeit werden würde.
Doch an diesem Tag im Museum wusste ich noch nicht, dass die Beziehung zwischen mir und Jake nicht halten würde. Ich schüttelte meine Gefühle ab und redete mir ein, ich sei einfach überempfindlich und mache aus einer Mücke einen Elefanten.
»Stell dich doch nicht so an«, murmelte Jake und nahm wieder meine Hand. Dann neckte er mich: »Ich verzeihe dir, dass du schlechte Malerei magst.«
»Letzter Halt: die ständige Sammlung afrikanischer Kunst«, verkündete Miss Elliot. Ich blickte zurück auf Green Sea , als sich die Klasse zu den Aufzügen begab. Diesmal wirkten die beiden Gestalten am Strand anders auf mich: Sie kamen nicht auf mich zu, sondern entfernten sich von mir.
Als ich nach dem Schwimmen ins Haus zurückkehrte, hatte meine Mutter schlechte Laune und motzte mich an, weil ich ungekämmt an den Frühstückstisch kam. Tante Kathleen sah müde aus. Sie lächelte, als sie mir ein pochiertes Ei auf den Teller gab, hatte aber dunkle Ringe unter den Augen, und ich merkte, wie sie sich versteifte, als meine Mutter sprach. Hatten die beiden sich gestritten? Ich starrte meine Mutter zornig an. Zweifellos hatte sie etwas an meiner Tante auszusetzen gefunden, die doch der absolut netteste Mensch war, den ich kannte.
Aber mit Nettigkeit kommt man nicht weit, ermahnte ich mich und dachte daran, wie mich Corinne und die anderen gestern Abend im Stich gelassen hatten. Vielleicht hätten sie mich mitgenommen, wenn ich nicht so deutlich gezeigt hätte, wie gerne ich mit ihnen zusammen sein wollte? Sollte ich mich lieber verstellen? War das der Weg, mich durchzumogeln und einen schönen Urlaub zu verleben?
Wer weiß. Ich verließ den Tisch sobald wie möglich, packte eine Banane und eine Flasche Mineralwasser in meinen Rucksack und holte ein Fahrrad aus der Garage.
Ich fuhr in Richtung Westen, immer die Dune Road entlang, die sich so lang und flach erstreckte, dass sie sich ideal für die Erkundung der Küste eignete. Sie führte an den Stränden Southamptons entlang bis zum Ende der Landzunge, auf der ich mich befand, dort, wo der Shinnecock Inlet, ein Meeresarm, unser Stück Sandstrand vom nächsten trennte. Ich stand neben meinem Fahrrad und blickte über den schmalen Streifen blauen Wassers, der mich am Weiterfahren hinderte. Der Weg war abgeschnitten, ich konnte aber erkennen, wo die Dünenstraße auf der anderen Seite weiterführte die ganze Küste hinunter, von Hampton Bays bis nach Tiana Beach und hinüber nach Westhampton.
Zu meiner Rechten erweiterte sich der Meeresarm zur Shinnecock Bay. Das Marschland leuchtete grüngrau, und in der Ferne erkannte ich die Gestalten von Männern, die Jakobsmuscheln aus dem seichten, sandigen Gewässer hoben. Über ihnen wölbte sich hoch die Ponquogue-Brücke, die in der Stadt Hampton Bays endete. Der Anblick war ruhig, still und traumhaft. Wie ein Gemälde.
Ich kehrte um und fuhr
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