Der Sommer der Toten
er wieder heraus und ging zur Friedhofsmauer. Von dort aus konnte er den gesamten Zuweg überblicken und nachschauen, ob sich nicht doch ein Besucher hier hoch verirren würde. Erwartungsgemäß war niemand zu sehen.
Dennoch war es sicherer. Er hätte erhebliche Probleme, zu erklären, wieso er eine Handvoll Knochen mit einem Flaschenzug aus dem Grab holen wollte.
Er ging wieder zurück und beeilte sich, das Gestänge aufzubauen und die Flaschenzug-Mechanik einzuhängen.
Dann sprang er ins Grab und hebelte den Sargdeckel auf. Er hob den Deckel an und schickte sich an, ihn aus dem Grab zu wuchten. Doch als er das Innere des Deckels sah, hielt er inne und starrte in den Sarg.
Nur mit äußerster Mühe zwang er sich zur Ruhe, stellte den Deckel hochkant im Grab ab und bemühte sich mit äußerster Willenskraft, nicht hysterisch, sondern so ruhig wie möglich aus dem Grab zu klettern.
Erst als er vor dem Grab stand, atmete er tief durch und blickte noch mal in den geöffneten Sarg hinein, um sich davon zu überzeugen, dass ihm seine Sinne keinen Streich gespielt hatten.
Dann nahm er sein Handy aus der Tasche und rief im Pfarrhaus an. Pfarrer Schuster nahm ab.
„Bitte kommen Sie so schnell wie möglich auf den Friedhof“, sagte er tonlos und beendete das Gespräch wieder. Danach ging er nochmals zur Friedhofsmauer und überzeugte sich, dass niemand auf dem Weg nach oben war.
Aus den Augenwinkeln sah er, dass Pfarrer Schuster um die Ecke geeilt kam. Werner ging zum Grab zurück.
Der Pfarrer blickte in das Grab hinab und wurde kreidebleich. Auch ein Stoßgebet kam diesmal nicht. Werner blieb neben ihm stehen und wartete, bis sich Pfarrer Schuster von selbst äußerte. Währenddessen vermied er es, in das Grab zu blicken.
„Was geht hier nur vor?“, murmelte der Dorfpfarrer entsetzt.
Der Grauen erregende Anblick in diesem Sarg war durch fast nichts mehr zu überbieten. Da die Leiche ebenfalls bestens erhalten war, konnte man die unglaublichen Qualen des Toten aus dessen Gesicht ablesen.
Die Stoffbespannung des Sargdeckels war zerkratzt. Überall waren Blutspuren. Im Sarg lagen Splitter abgebrochener Fingernägel. Die Beine des Toten waren angewinkelt. Die Handgelenke waren kaputtgebissen. Offensichtlich hatte der Tote versucht, auf diese Weise seine Pulsadern zu öffnen, um so seinen Qualen ein vorzeitiges Ende zu bereiten.
In diesem Grab lag wirklich ein Mensch, der lebendig begraben wurde.
„Ich halte das nicht mehr aus“, sagte Werner ruhig.
Pfarrer Schuster sah ihn wortlos an.
„Ich weiß, dass Menschen sterben“, fuhr Werner fort. „Ich habe auch schon zersplitterte Knochen aus Gräbern geholt. Ich wusste, dass diese Menschen bei schrecklichen Unfällen ums Leben gekommen waren. Ich habe fast mein ganzes Leben damit verbracht, Tote auszugraben. Zum ersten Mal, als ich fünfzehn war. Damals musste ich es tun, um meine Familie zu ernähren. Es macht mir nichts aus. Alles ist vergänglich. Ich war gestern auch furchtbar erschrocken, als ich die erhaltene Leiche im Grab fand. Aber dafür gibt es vielleicht auch noch eine wissenschaftliche Erklärung. Aber das hier hätte nie passieren dürfen. Und es ist einfach zu viel. Ich kann nicht mehr.“
„Haben Sie ihr tragbares Telefon dabei?“, fragte Pfarrer Schuster.
„Ja.“
„Rufen Sie Anna an und geben Sie mir dann das Gerät.“
Werner tat wie geheißen, wählte die Nummer und als Anna abhob, reichte er wortlos das Handy an den Pfarrer weiter.
„Hallo? ... Anna? ... Ja, hier ist Pfarrer Schuster. Ist diese Biologin bei dir? ... Gut. Könnt ihr so schnell wie möglich an den Friedhof kommen? ... Danke. Ich warte hier auf euch.“
Er gab Werner das Telefon zurück. Werner trennte die Verbindung.
„Sie kommen.“
3.
„Und du weißt wirklich nicht, was los ist?“, fragte Bianca, als sie sich dran machten, den Weg zum Friedhof zu erklimmen.
„Nicht im Geringsten.“
„Hoffentlich zitieren sie uns nicht wegen einer Lappalie hier hoch“, stöhnte Bianca.
„Sehr wahrscheinlich nicht.“
„Was macht dich da so sicher?“
„Erstens“, sagte Anna und blieb stehen, damit ihr beim Sprechen nicht die Puste ausging. „Wenn ich das mit der Rufnummerweiterleitung richtig gedeutet habe, hat Pfarrer Schuster mit Werners Handy telefoniert. Wenn der das freiwillig macht, dann ist das schon ein Zeichen für einen Notfall. Und zweitens ... Tja, du hast seine Stimme nicht gehört.“
„Also will ich lieber nicht wissen, was jetzt schon
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