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Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Derbort
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hielt er einen voluminösen Aktenordner. Diesen legte er auf den Wohnzimmertisch und blätterte so lange darinnen, bis er das benötigte Dokument fand. Es handelte sich um Kirchenaufzeichnungen, wie Bianca erkannte, als sie auf ein Zeichen des Pfarrers hin in den Ordner blickte.
    Darin war vor allem dokumentiert, dass zwischen dem festgestellten Tod von Annas Vater und der Beisetzung ganze fünf Tage vergangen waren.
    Bianca schüttelte unwillig den Kopf. Sie konnte einfach nicht glauben, dass ein Mensch so lange unerkannt scheintot sein konnte.
    Sie sah Anna an. Anna blickte aufmerksam in die Runde.
    „Was ist das?“, fragte sie mit leicht krächzender Stimme.
    „Aufzeichnungen zum Tod deines Vaters“, sagte Bianca sanft.
    „Will ich es wissen?“
    „Keine Ahnung“, erklärte Bianca seufzend. „Darin steht, wann bei deinem Vater der Tod festgestellt wurde und wann die Beisetzung war.“
    „Sag’s mir“, verlangte Anna.
    „Es lagen fünf Tage dazwischen“, antwortete Bianca. „Eigentlich ist es ausgeschlossen, dass passieren konnte, was passiert ist.“
    „Eigentlich?“ Annas Stimme bekam einen harten Ton.
    „Ja. Ich weiß von keinem derartigen Fall. Ich bin ehrlich ratlos.“
    „So?“, fragte Anna herausfordernd. „Bist du immer noch ratlos, wenn ich dir sage, dass meine Ahnenlinie zu Vater Inquisitor väterlicherseits bestand?“
    Bianca blickte Anna lange entsetzt an.
    „So langsam bekomme ich Angst“, sagte sie.
    4.
„Wie ich sehe, hat Anna Sie so weit aufgeklärt, dass Sie ihre Rolle in dieser ganzen Geschichte verstehen“, begann Pfarrer Schuster das Gespräch.
    Sie hatten noch eine weitere Stunde gewartet, ehe sie anfingen, über die Vorfälle erneut zu diskutieren.
    „Ja, das hat sie“, antwortete Bianca. „Ich kenne jetzt auch die Details, die noch weniger rühmlich waren.“
    „Das ist gut so“, entgegnete der Priester. „Ich wollte es einfach nicht sagen. Mein Gelübde spricht dagegen. Anna musste selbst entscheiden, ob sie Ihnen das sagt.“
    „Sie wollten mich als Skeptikerin vom Dienst dabei haben und so langsam fange ich an zu glauben, dass an diesen ganzen Legenden etwas dran ist.“
    „Jede Legende hat ihren wahren Kern“, widersprach Pfarrer Schuster. „Die Schwierigkeit dabei ist, zu erkennen, wo die Legende aufhört und die Wahrheit beginnt. Was macht es so schwierig? Haben Sie Probleme damit, zu akzeptieren, dass es wirklich die berühmten Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die sich unserer Schulweisheit entziehen? Befürchten Sie, dass Sie, wenn Sie die Existenz des Bösen akzeptieren, automatisch an Gott glauben müssen?“
    „Moment mal“, protestierte Bianca. „Soweit ich weiß, war dieser Hexenröster einer von Ihrem Verein.“
    „Mein liebes Kind“, entgegnete Pfarrer Schuster sanft. „Die Kirche ist fehlbarer, als sie selbst zugibt. Und gerade zu den Zeiten des Hexenwahns war diese Fehlbarkeit so offensichtlich wie noch nie. Heinrich Institoris ist nur knapp einem Prozess wegen Unterschlagung von Kircheneinnahmen entgangen, als er den Hexenhammer verfasste. Und er war immerhin Dominikanermönch. Wenn diese Worte diesen Raum verlassen, dann bekomme ich wahrscheinlich direkt aus Rom eins auf den Deckel. Aber auch das vermeintlich Gute unterteilt sich in Gut und Böse.“
    „Das klingt verwirrend.“
    „Keinesfalls. Nehmen Sie einen Apfel. Eine Hälfte ist noch in Ordnung, eine Hälfte hingegen ist faul. Sie halbieren den Apfel und werfen die faule Hälfte weg. Das hindert die essbare Hälfte aber nicht daran, wieder zur Hälfte zu verfaulen.“
    „Und dann halbiere ich den Apfel wieder ... und wieder ...“ Bianca stöhnte unwillig. „Das Spielchen kann ich dann geradezu unendlich fortführen – bis hin zur submolekularen Ebene. Was ist dann Gut und was ist Böse?“
    Niemand antwortete.
    „ Fair is foul and foul is fair ... “ zitierte Bianca. „Meine Güte. Ich bezweifle, dass wir jetzt mit einer manichäisch angehauchten Moralphilosophie weiter kommen.“
    „Genau. Und Ihr Macbeth-Zitat bringt es auf den Punkt. Was zu Zeiten des Hexenwahns angerichtet wurde, sind für uns heutzutage Grausamkeiten allererster Güte. Wenn uns ein Zeitloch plötzlich zurück ins Mittelalter katapultiert und Sie haben aus Versehen noch Ihr tragbares Telefon dabei, dann sind Sie ziemlich schnell ein Fall für den Scheiterhaufen. Dennoch ist mir nicht bekannt dass von Institoris oder Sprenger ein Fluch ausgeht, der die Kirche noch in der heutigen Zeit

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