Der Sommer der Toten
wieder los ist, richtig?“
„Ich vermute es.“
„Also komm“, entschied Bianca. „Bringen wir’s hinter uns.“
Sie gingen den steilen schlecht befestigten Weg zum Hexenhügel hinauf. In dieser Hitze bekam Bianca für einen Augenblick den Eindruck, der Neigungswinkel hätte sich boshafter Weise noch um einige Grad nach oben verändert.
Biancas gute Kondition kam ihr aber zur Hilfe und sie erreichten das Friedhofstor noch einigermaßen unproblematisch. Auch Anna, die täglich mehrere Kilometer zwischen Küche und Gastraum hin und her rannte, konnte gut mithalten.
Werner und der Pfarrer standen immer noch vor dem vierten geöffneten Grab. Bianca erkannte sofort, dass hier wirklich etwas absolut nicht stimmte.
Sie eilten über den Friedhof und bevor der Pfarrer oder Werner eine Warnung abgeben konnten, standen sie vor dem Grab und blickten hinein.
Bianca sprang mit einem entsetzten Aufschrei einen Schritt zurück. Anna starrte lange entsetzt in das Grab, wandte sich schließlich ab und übergab sich.
„Das ... das kann doch gar nicht sein!“, sagte Bianca mit einem leisen Anflug von Hysterie in ihrer Stimme.
Anna taumelte einige Schritte, dann fiel sie auf die Knie und begann laut und hemmungslos zu weinen. Es mischten sich Wutschreie darunter. Sie klaubte Kies vom Weg und warf ihn so wütend und so unkontrolliert durch die Gegend, dass Bianca und die beiden Männer beiseite springen mussten, um nicht getroffen zu werden.
Bianca sprang zu ihr und hielt rasch ihre Hände fest, bevor sie wieder Kies durch die Gegend schleudern konnte und dann vielleicht wirklich jemanden verletzte.
Anna begann wütend und hysterisch zu kreischen und wand sich wie wild in Biancas festem Griff. Sie sprang auf die Füße und trat um sich. Ein Tritt traf so schmerzhaft Biancas Schienbein, dass sie aufstöhnte und außerdem den Griff lockerte.
Anna riss sich los und schlug ziellos um sich. Dabei schienen ihre Wutschreie immer lauter zu werden. Bianca hatte keine andere Wahl. Sie passte einen günstigen Moment ab und verabreichte Anna eine schallende Ohrfeige.
Annas Schreie brachen abrupt ab. Scheinbar endlos lange starrte sie Bianca mit weit aufgerissenen Augen an. Bianca berührte sie vorsichtig und nahm sie sanft in die Arme. Anna begann wieder zu schluchzen und weinte sich schließlich an Biancas Schultern aus.
Bianca ließ sie gewähren. Sie blickte sich um und sah, dass Werner und der Pfarrer wie begossene Pudel neben dem Grab standen und betreten zu Boden blickten.
Langsam beruhigte sich Anna wieder. Bianca drängte nicht und wartete, bis ein Signal von ihr kam.
„Ich kenne ihn von den Fotos ...“, erklärte Anna schließlich schluchzend.
„Den Mann im Grab?“, fragte Bianca vorsichtig.
„Ja.“
Bianca wartete, ob noch mehr kam. Aber Anna sprach nicht weiter.
„Wer ist es?“, fragte Bianca schließlich.
„Das ...“ Anna brach wieder in Tränen aus und konnte nicht weiter sprechen. Bianca gefiel diese Situation gar nicht. Dennoch übte sie sich in Geduld.
„Du musst es jetzt nicht sagen“, sagte Bianca sanft.
„Doch ... Ich will ...“
„Entscheide du, wann du so weit bist.“
„Ich ... ich ... habe ihn nie richtig kennen gelernt ... Aber. .. aber der Mann in diesem Grab ist ... ist mein ...“ Anna holte tief Luft. Es fiel ihr sichtlich schwer, das letzte Wort auszusprechen. Dann gab sie sich einen Ruck.
„Es ist mein Vater!“, platzte es aus ihr heraus, bevor sie einen neuen Weinkrampf bekam.
„Gehen wir ins Pfarrhaus“, schlug der Priester vor.
Bianca nickte. Vorsichtig führte sie Anna auf einem Umweg von Friedhof, um ihr zu ersparen, nochmals direkt an dem Grab ihres Vaters vorbeigehen zu müssen.
Im Wohnzimmer nahm Anna auf dem Sessel Platz, auf dem am Abend zuvor schon Kurt saß. Sie hatte ein verweintes Gesicht, aber ihr Blick war einigermaßen klar. Dennoch schwiegen alle Anwesenden und ließen Anna erst einmal Zeit, sich von diesem Schock zu erholen.
Bianca vermutete, dass Anna Jahre benötigte, um den Anblick zu verdauen. Auch sie hatte Probleme damit, diesen furchtbaren Anblick noch rational zu bewerten. Bei Anna musste dieses Bild zusammen mit der Erkenntnis, dass dies ihr Vater war, der lebendig begraben wurde, ungleich schwerer zu verkraften sein.
Ihr Vater, den sie niemals kennen lernen durfte, obwohl sie diese Chance ohne weiteres hätte haben können.
Pfarrer Schuster verließ den Raum und kam eine gute halbe Stunde später wieder zurück. In der Hand
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