Der Sommer der Toten
Du unter den Frauen ...
Bereits seit drei Stunden hielt Mutter Totenwache. Vater kam zwischenzeitlich hoch, um ihr etwas kalten Eistee zu bringen. Den hatte sie dankbar angenommen. Ebenso dankbar hatte sie registriert, dass ihr Mann ansonsten ihre Trauer so akzeptierte, wie sie war, und sie auch in Ruhe ließ. Vater war ganz im Gegensatz zu Mutter überhaupt nicht religiös, aber im Laufe ihrer langjährigen Ehe hatten beide gelernt, gegenseitig diese unterschiedlichen Weltanschauungen zu akzeptieren.
... und gebbenedeit sei die Frucht Deines Leibes, Jesu ...
Während Mutter in Gebeten versunken Trauerwache hielt, widmete sich Vater den pragmatischeren Tätigkeiten, organisierte einen Pfarrer, ein Bestattungsunternehmen und kümmerte sich um alle Vorbereitungen rund um die Beisetzung. Da der Friedhof von Berghausen bis auf Weiteres gesperrt war, musste die Beerdigung auf dem Friedhof des Nachbarortes stattfinden.
„HÜTE DICH VOR DENEN DIE DA NOCH KOMMEN! IHR SEID ALLE DEM UNTERGANG GEWEIHT!“
Großmutter saß aufrecht im Bett und deutete mit ihrem rechten Zeigefinger fast schon anklagend auf Mutter, während sie mit unnatürlich hohler Stimme diese Worte sprach.
Wie von einer Tarantel gestochen sprang Mutter von ihrem Stuhl auf und wich rückwärts fast rennend vor der Totenstatt zurück, mit aufgerissenen Augen die Großmutter betrachtend.
Mutters Blick deutete einen leisen Hauch beginnenden Wahnsinns an. Sie hatte gar nicht richtig mitbekommen, wie sich Großmutter erhoben hatte. Es ging rasend schnell. Nur ein kurzes Knarren des Bettes hatte diese unheimliche Verwandlung angekündigt. So behände, wie sich Großmutter erhoben hatte, war sie zu Lebzeiten schon seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr gewesen.
All diese Gedanken und noch vieles mehr schoss durch ihren Kopf, während Mutter immer noch laut kreischend vor Großmutter zurückwich.
Auch Vater, der alarmiert von den Schreien die Tür aufgerissen hatte, um zu sehen, was hier los war, starrte ungläubig auf das, was er auf dem Totenbett vorfand. Mutter war fast bis zum geöffneten Fenster zurückgewichen, als Vater erkannte, welches Unheil bevorstand.
„Vorsicht!“, rief er, als er erkannte, dass seine Frau dabei war, sich mit ihren Füßen an einem Verlängerungskabel zu verheddern, aber es war zu spät.
Angetrieben von dem eigenen Schwung stolperte Mutter so vehement über die Schnur, dass sie sogar noch einige Zentimeter abhob und schließlich aus dem geöffneten Fenster stürzte.
Vater erkannte, dass Mutter es gerade noch schaffte, sich mit einer Hand am Fensterrahmen festzuklammern, und stürzte in den Raum, um ihr zur Hilfe zu eilen, doch er erreichte seine Frau zu spät.
Sie rutschte mit ihren feuchten Fingern von dem Fensterrahmen ab und stürzte in die Tiefe.
Den Sturz hätte sie mit einiger Wahrscheinlichkeit sogar überleben können – wenn auch mit einigen schmerzhaften Verletzungen, doch das Unglück schien sich Familie Gmeiner besonders ausgesucht zu haben. Mutter stürzte in den Garten. Dort war eine eiserne Wäschestange fest in den Boden eingelassen. Mutter stürzte darauf zu und Vater musste hilflos vom Fenster aus beobachten, wie seine Frau auf die Stange fiel und etwa in Körpermitte von dieser Stange aufgespießt wurde.
Mit einer Mischung von Wut, Trauer und Verzweiflung stieß Vater einen Schrei aus, der auch die Kinder alarmierte.
Wenig später stand die Familie fassungslos im Garten und wartete auf Feuerwehr und Krankenwagen, die Vater alarmiert hatte, musste aber tatenlos zusehen, wie Mutter langsam aber sicher verblutete und starb, bevor sie die ersten Martinshörner vernahm.
5.
Der Seniorenstift Berghausen genoss einen exorbitant guten Ruf. Im Vergleich zu vielen Altenheimen, die sich auf die niedrigen Pflegesätze herausredeten und alte, hilflose Menschen unter KZ-Bedingungen hielten, wurden hier die verfügbaren Gelder in einen Topf geworfen und dank einer hervorragenden Verwaltung so geschickt aufgewendet, dass sogar noch Überschüsse erzielt werden konnten.
Eine flache Hierarchie und erstklassige Arbeitsbedingungen garantierten hochmotivierte Mitarbeiter und ein gutes Klima für alle dort anwesenden Personen.
Dieses Klima hatte in den letzten Wochen allerdings stark gelitten, denn es waren hier so viele Menschen wie noch nie gestorben. Und das trotz eingeschalteter Klimaanlage, welche die Sommerhitze erfolgreich nach draußen verbannte und für angenehme Raumtemperaturen sorgte.
Und trotzdem war
Weitere Kostenlose Bücher