Der Sommer der Toten
innerhalb weniger Wochen mehr als ein Drittel aller Heimbewohner gestorben. Es handelte sich um alte Menschen und alle starben eines natürlichen Todes, aber diese plötzliche Häufigkeit war so ungewöhnlich, dass zuletzt auch die Polizei genauer nachforschte. Ohne allerdings etwas Außergewöhnliches zu entdecken.
Aber der gute Ruf des Hauses war schlagartig verschwunden. Plötzlich wurde das ehedem hochgelobte Seniorenheim vor allem von der Boulevardpresse als Sterbefabrik und noch schlimmer bezeichnet. Angestellte trauten sich schon gar nicht mehr, bei der Arbeit zu erscheinen, denn niemand wusste, wie viele Tote sie diesmal in den Zimmern vorfinden würden. Jedenfalls mehr, als sie verkraften konnten. Fünf Leute vom Pflegepersonal haben sich bereits deswegen krank gemeldet.
Auch Bettina spielte mittlerweile jeden Morgen mit dem Gedanken, nicht zur Arbeit, sondern zum Arzt zu fahren, um sich dort eine Krankmeldung zu besorgen.
Noch als sie ihren alten Ford Fiesta auf den Mitarbeiterparkplatz des Seniorenstiftes steuerte, überlegte sie, wieder umzudrehen und zurück zu fahren.
Aber sie überwand diese Gedanken, suchte sich einen Parkplatz, stellte ihren Wagen dort ab, stieg aus und ging hinein.
Nur wenige Minuten später bereute sie bereits, dass sie entgegen ihrer Bedenken zur Arbeit erschienen war.
Aber es sollte noch schlimmer kommen.
„Gott sei dank, Bettina!“, rief Frau Seibert, die Oberschwester aus, als sie durch die Haupteingangstür kam und das großzügig ausgestattete Foyer betrat. „Sie schickt der Himmel. Zwei Weitere haben sich krankschreiben lassen und jetzt sind nur noch Sie, Siegrid, ich und die beiden Zivis übrig.“
„Scheiße!“, stöhnte Bettina. „Wie sollen wir das alles bewältigen?“
„Das weiß ich selbst nicht.“ Frau Seibert klang verzweifelt. „Ich kann es niemandem übel nehmen, sich jetzt auszuklinken, aber ich weiß wirklich nicht, wie wir den Betrieb weiter aufrechterhalten können.“
„Noch weitere Hiobsbotschaften?“, erkundigte sich Bettina entgeistert.
„Vier Todesfälle letzte Nacht“, berichtete Frau Seibert knapp. „Wie gehabt natürlicher Tod. Auch Frau Elbert ist ihrem Krebsleiden erlegen. Eigentlich nichts Besonderes – sieht man von der Häufigkeit ab. Noch drei und wir haben unsere Bewohner halbiert.“
„Aber es kann doch keiner etwas dazu“, protestierte Bettina. „Das hat bis jetzt jeder bestätigt.“
„Kaffee?“ Frau Seibert wechselte abrupt das Thema. „Ich habe gerade frischen aufgesetzt. In der Teeküche können wir uns weiter unterhalten. Da hören uns auch die anderen Bewohner nicht und wir beunruhigen niemanden.“
Bettina nickte. Sie merkte, dass sie sich auf den Kaffee regelrecht freute.
Frau Seibert ging vor und Bettina folgte ihr. Frau Seibert war ihre direkte Vorgesetzte – gewissermaßen ihre Chefin.
Sie hatte etwas Drohnenhaftes, das durch ihre beeindruckende Erscheinung nicht gerade abgemildert wurde. Aber dahinter verbarg sich ein äußerst warmherziger Mensch. Alle ihre Mitarbeiter hatte sie in ihr Herz geschlossen, als wären es ihre eigenen Kinder. Und wenn Zivildienstleistende ihre Zeit abgeleistet hatten und gehen mussten, flossen nicht selten Tränen auf beiden Seiten.
Bettina mochte sie sehr und sah in ihr die Mutter, die sie de facto nie wirklich hatte. Ihre Mutter verbrachte die ganze Zeit im Suff, endete schließlich in der Psychiatrie, wo sie zwei Jahre später an Leberzirrhose starb. Was Warmherzigkeit bedeutete, bekam sie erst mit, als sie nach ihrer Ausbildung die Stelle in dem Seniorenstift annahm.
„Der Arzt war bereits hier und hat die Totenscheine ausgestellt“, berichtete Frau Seibert, als sie in der Teeküche angekommen waren und während sie Kaffee ausschenkte. „Er hat gesagt, dass es noch weitere Todesfälle hier im Ort gegeben hat, um die er sich kümmern muss. Das Seniorenstift scheint also nicht der einzige Ort zu sein, in dem die Leute wie die Fliegen wegsterben. In ganz Berghausen gibt es im Moment ungewöhnlich viele Todesfälle.“
„Und warum stürzen sich dann alle auf uns?“, fragte Bettina empört. „Die von der Presse tun fast so, als würden wir die Leute hier selbst über die Wupper schicken.“
„Hier gibt es die meisten Fälle“, gab Frau Seibert zu bedenken. „Wie gesagt: Noch drei Todesfälle und wir haben innerhalb von drei Wochen die Hälfte unserer Bewohner verloren. Das ist eine verheerende Zahl.“
„Und jetzt sind die meisten Kollegen auch noch
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