Der Sommer der Toten
krank“, beschwerte sich Bettina. „Ehrlich gesagt habe ich auch schon mit dem Gedanken gespielt.“
„Und ich hätte es dir noch nicht mal übel nehmen können“, antwortete Frau Seibert sanft. „Was hier passiert, ist mehr, als normale Menschen verkraften können. Und ich rede von Menschen, die nicht anstatt eines Herzens einen Kühlschrank in der Brust tragen.“
„Okay.“ Bettina lächelte matt. „Jetzt bin ich hier. Wie geht es weiter?“
„Unsere Zivis sind schon dabei, die Pflegefälle so weit zu versorgen, dass sie frisch sind und zeitig ihr Frühstück bekommen. Das ist so weit alles ganz gut. Der Rest bekommt sein Frühstück mit leichter Verspätung. Ich habe zwei Küchenhelfer bereits nach oben beordert, um bei der Essensausgabe zu helfen. Siegrid kümmert sich um die anderen Leute und wir alle zusammen müssen heute Akkordarbeit leisten.“
„Irgendwie werden wir es schon schaffen“, sagte Bettina und versuchte dabei, zuversichtlich zu klingen. Das wollte aber nicht so recht klappen.
Frau Seibert wollte etwas sagen, kam aber nicht dazu, weil die Tür zur Teeküche aufgerissen wurde und Bernd, einer der beiden Zivis hereingestürzt kam und aussah, als würde er jeden Augenblick seinen Verstand verlieren.
„Bernd!“, fuhr Frau Seibert erschrocken auf. „Was ist denn in Sie gefahren?“
„Oben ...“, stammelte Bernd. „Frühstück... Im Frühstücksraum ...“
„Wieder ein Todesfall?“, fragte Frau Seibert unwillkürlich.
Bernd schüttelte den Kopf und atmete zweimal tief durch, bevor er antwortete.
„Im Frühstucksraum“, wiederholte er gefasster, obgleich er weit davon entfernt war, wirklich gefasst zu wirken. „Im Frühstücksraum steht Herr Küllmer.“
„Das gibt es doch nicht!“, fuhr Frau Seibert auf.
„Ich habe auch gedacht, ich spinne, aber überzeugen Sie sich selbst“, sagte Bernd und klang fast ein klein wenig beleidigt.
„Wieso?“, fragte Bettina. „Ich meine, der ist doch fit genug.“
„Kind ...“ Frau Seibert sah sie ernst an. „Herr Küllmer ist einer der Bewohner, die letzte Nacht verstorben sind.“
6.
Das „Dream-Team“, wie Klaus die Anwesenden mittlerweile ironisch nannte, saß in Annas Kneipe am Tisch und alle schwiegen vor sich hin.
Sie folgten ihren eigenen Gedanken, versuchten, das Erlebte, irgendwie einzuordnen und vor allem die nächsten Schritte zu planen. Doch niemand vermochte es, eine konstruktive Idee zu äußern.
Dr. Kovacs, der als Arzt bislang nur mit lebenden oder toten Patienten zu tun hatte, versuchte krampfhaft eine vernünftig klingende Antwort für die, wie er es nannte, „Zwischenform“ zu finden, aber die Erklärungsversuche klangen um so verrückter, je intensiver er versuchte, das Problem wissenschaftlich rational anzugehen, und schließlich gab er es auf. Er weigerte sich aber immer noch standhaft, mystisch angehauchte Begriffe, wie „Zombies“ oder in sich widersprechende Wendungen wie „lebende Tote“ zu verwenden.
Klaus war hin und her gerissen zwischen Sorge um Bianca und Eifersucht. Bianca schien es vorzuziehen, mit Anna über ihre Albträume zu reden. Nachdem sie mit Anna wieder aufgetaucht war, verlor sie kein Wort mehr über dieses Thema. Vielleicht war er als Mann nicht der richtige Gesprächspartner bei solchen Themen – das versuchte er sich jedenfalls einzureden. Aber etwas mehr Vertrauen hätte er doch lieber gehabt. Nachdem er ein wenig vor sich hingeschmollt hatte, beschloss er, ihr mehr Zeit zu geben. Immerhin waren sie erst kurz zusammen und vieles musste sich bestimmt noch entwickeln. Bianca würde sich schon noch bei passender Gelegenheit ihm anvertrauen. Dieser Gedanke beruhigte ihn erst einmal soweit, dass er sich bei seinen Gedanken wichtigeren Themen widmen konnte.
Biancas Kopf war wie leer gefegt. Seit dem Erlebnis mit dem schreienden Schädel war sie vorerst nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie saß wie betäubt mit den anderen am Tisch und wusste irgendwo in ihrem Inneren, dass sie zwischen Freunden war. Und der Gedanke war unglaublich beruhigend.
Anna zerbrach sich den Kopf. Zu viele Fragen blieben unbeantwortet. Und die Frage, wie man sich lebender Toter erwehrt, schien da noch eine eher untergeordnete Rolle zu spielen. Sie hatte das Gefühl, dass sie alle Marionetten in einer galaktischen Posse waren. Jeder dazu verdammt, seine Rolle zu spielen. Doch Anna war sich gar nicht mehr so sicher, ob sie wissen wollte, welche Rolle wem zugedacht war. Auch
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