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Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Derbort
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einem Wandschrank, öffnete ihn und kam mit einem Schuhkarton zurück.
    Obgleich Bianca ahnte, was jetzt kommen würde, zuckte sie dennoch unwillkürlich zurück, als Anna den Deckel des Kartons abnahm und einen menschlichen Schädel offenbarte.
    „Scheiße!“, entfuhr es Bianca entsetzt. „Das ist doch nicht etwa ...?“
    „Doch das ist er ...“
    „Woher willst du das so genau wissen?“, fragte Bianca skeptisch. „Ich meine, das ist ein Friedhof. Da liegt jede Menge davon herum. Der Schädel kann ja mal vor ein paar hundert Jahren von einem Totengräber beim Ausgraben verloren worden sein.“
    „Ich habe ihre Stimme wieder erkannt“, sagte Anna.
    „Ihre Stimme?“ Biancas Stimme kippte über. „Sag mal, hast du gekifft?“
    „Ich habe schon fast erwartet, dass du mir nicht glaubst“, sagte Anna. „Trotz allem, was schon passiert ist.“
    „Ich weiß ja noch gar nicht, was ich dir nicht glauben soll, Schätzchen. Du sprichst in Rätseln.“
    „Berühre ihn.“ Anna hielt Bianca den Karton mit dem Schädel hin.
    „Ich soll ... was ?“
    „Berühre den Schädel.“
    „Ist das dein Ernst?“
    „Ja. Berühre den Schädel. Keine Angst – es wird dir nichts geschehen.“
    Bianca blickte entgeistert in den Schuhkarton. Sie hatte sich zwar noch keinen Plan für den Tag zurechtgelegt, aber das Herumfingern an menschlichen Schädelknochen stand ganz eindeutig nicht auf der Wunschliste.
    Langsam bewegte sie ihre Hand in die Richtung des offenen Kartons. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie gerade dabei, in eine Wanne mit stark ätzender Säure zu fassen.
    Anna hielt ihr den Karton entgegen und blickte sie geduldig an.
    Biancas Hände ruhten jetzt nur noch einen Zentimeter von dem Schädel entfernt in der Luft. Sie sah mit skeptischem Blick Anna an.
    Anna nickte stumm.
    Bianca berührte den Schädel. Zunächst mit den Fingerspitzen, dann legte sie die ganze Hand drauf.
    „Komisch ...“, sagte Bianca. Sie flüsterte fast. „Der Schädel fühlt sich irgendwie ... warm an. Und er scheint leicht zu vibrieren. Ganz so, als würde er ...“
    Als würde er leben , wollte sie sagen, aber sie kam nicht dazu, ihren Satz fertig auszusprechen.
    Der Schädel stieß einen markerschütternden Schrei aus.
    2.
Großmutter war tot. Eigentlich hatte sich die Familie schon seit geraumer Zeit darauf eingestellt, aber nun, da es soweit war, verfielen alle in tiefe Trauer und haderten mit dem Schicksal. Eigentlich unnötig, denn nach einem erfüllten Leben war Elfriede Gmeiner im Alter von 96 Jahren friedlich entschlafen – ganz ohne Schmerzen und ohne jahrelanges Siechtum vergessen und verlassen in einem Altenheim.
    Der Arzt unterschrieb den Totenschein und verabschiedete sich nach einem Kaffee mit einigen tröstenden Worten.
    Es hatte sich bereits herumgesprochen, dass Pfarrer Schuster tot war. Die wahre Geschichte kannte natürlich niemand – es hielt sich das Gerücht, dass er in den Flammen bei dem Brand des Pfarrhauses umgekommen war. Und niemand, der die Wahrheit wusste, tat etwas, um dieses Gerücht zu entkräften.
    Der Pfarrer des Nachbarortes versprach, sich so schnell wie möglich bei den Gmeiners einzufinden. Zwischenzeitlich lag Großmutter in ihrem Bett auf dem Rücken – ganz so, als würde sie schlafen.
    Mutter hatte geweihte Kerzen entzündet und um das Totenlager herum aufgestellt. Die Hände des Leichnams waren über der Bettdecke auf Brusthöhe gefaltet und sie hielten einen Rosenkranz.
    Während die drei Gmeiner-Kinder in ihren Zimmern ihren eigenen trüben Gedanken nachgingen, machte sich Vater daran, die Verwandtschaft telefonisch vom Dahinscheiden der Großmutter zu informieren. Mutter war indessen im Sterbezimmer, hatte auf einem Stuhl neben dem Totenlager Platz genommen und war tief im Gebet versunken.
    Neben dem stillen Gemurmel, das die tiefgläubige Frau gelegentlich von sich gab, war lediglich das laute Ticken der Standuhr zu hören, ein Geräusch, das in dem stillen Zimmer fast schon wie Gewehrschüsse wirkte.
    Das monotone Klack-Klack-Klack machte klar, dass die Zeit nicht, wie es in der unbeweglichen Stille zu wirken schien, stehen geblieben war.
    Ein gelegentlicher sanfter Lufthauch, der durch das geöffnete Fenster drang, brachte ab und an die Kerzenflammen dazu, sanft hin und her zu flackern. Die Temperaturen in dem Mansardenzimmer waren in diesem mörderisch heißen Sommer fast unerträglich. Die Luft, die durch die offenen Fenster drang, war nicht in der Lage, diese Situation

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