Der Sommer der Toten
und als sie aufgeschlossen hatte, setzten auch diese sich in Bewegung und wankten auf den Ausgang zu.
Mit weit aufgerissenen Augen beobachteten Bewohner und Mitarbeiter das makabre Schauspiel.
„Wir können die doch nicht so gehen lassen ...“, kiekste Bernd völlig erschüttert.
„Was willst du tun?“, fragte Stefan schmerzvoll stöhnend. „Etwa aufhalten? Viel Spaß dabei.“
„Es reicht!“ Es war Frau Seibert, die ihre Erstarrung abschüttelte und wieder ihre gewohnt resolute Art an den Tag legte. „Ich werde jetzt die Polizei informieren und ich hoffe, ihr seid alle so freundlich, mich nicht mit meiner Aussage hängen zu lassen und stattdessen zu dem stehen, was wirklich geschehen ist. So unglaublich es auch sein mag.“
„Ich wünschte mir, ich hätte mich heute doch noch krankschreiben lassen ...“, stöhnte Bettina.
9.
Es war Dr. Kovacs’ Bereitschaftspiepser, der sie aus ihren trüben Gedanken rief. Der Arzt fragte Anna nach einem Telefon. Anna geleitete ihn zur Theke und ließ ihn alleine. Er wählte eine Telefonnummer und Bianca konnte von ihrem Platz aus beobachten, dass der Arzt während des Gespräches immer öfter zu ihnen herüberblickte.
Bianca hatte den Eindruck, das Gespräch hätte irgendwie mit ihnen zu tun, doch sie musste sich noch weitere zehn Minuten gedulden, ehe ihre Neugier befriedigt wurde – auch wenn sie es nicht unbedingt so haben wollte.
„Es geht um euren Freund, den Polizisten“, erklärte Kovacs unumwunden.
„Freund ist ein bisschen viel gesagt“, bemerkte Klaus. „Aber was ist mit ihm?“
„Die Wunde hat sich entzündet. Und das so heftig, dass die Kollegen kaum noch Optionen haben, ihm zu helfen.“
„Geht das bitte etwas genauer?“, fragte Bianca. „Und keine Angst vor Fremdwörtern. Hier sind zwei Biologen in der Runde.“
„Also ...“ Kovacs suchte nach geeigneten Worten. „Die Wunde hat sich entzündet. Die Leute im Labor sagten, es sei ein Staphylococcus aureus . Also noch nicht einmal was Spektakuläres.“
„Was ist das?“, mischte sich Anna ein und lächelte verlegen. „Ich bin die, die keine Biologin ist.“
„Ein Eitererreger“, erklärte Bianca knapp. „Den bekommt man normalerweise mit Antibiotika unter Kontrolle.“
„Normalerweise“, sagte Kovacs. „Aber bevor die Kollegen mit dem Antibiogramm so weit waren, war bereits alles zu spät. Das Bein musste ab.“
„Um Himmels willen!“, fuhr Bianca auf. „Womit um alles in der Welt macht ihr denn eure mikrobiologische Diagnostik? Mit Kartoffelscheiben, wie zu Robert Kochs Zeiten?“
„Nein, hochmodern“, gab Kovacs zurück. „Befund und Antibiogramm waren in 36 Stunden da. Jetzt ist das Bein ab und der Polizist wird gerade bis zum Stehkragen mit Antibiotika vollgepumpt, um die Blutvergiftung zu stoppen, aber so wie es im Moment aussieht, machen die Staphylokokken das Rennen und der Mann ist in spätestens zwölf Stunden tot.“
„Verdammte Scheiße“, stöhnte Bianca. „Das darf doch alles nicht wahr sein!“
„Gibt es da etwas, was ich nicht so ganz verstanden habe?“, hakte Anna nach. „Irgendwo habe ich das Gefühl, ich habe eine Informationslücke ...“
„Das Problem ist folgendes“, versuchte Klaus. „Wenn du dir eine Infektion einfängst, hast du irgendwo in deinem Körper Bakterien. Diese Bakterien kann man abtöten und zwar mit Antibiotika. Das geht im Allgemeinen auch ganz gut. So schnell verbreiten sich diese Bakterien nun doch nicht und wenn man rechtzeitig zum Arzt geht und fleißig diese Antibiotika schluckt, die man verschrieben bekommt, dann hat man die Jungs innerhalb kurzer Zeit abgetötet und man ist auf dem Weg zur Besserung. Bei einigen ganz hartnäckigen Vertretern wird es schwierig. Da kommt oft noch hinzu, dass die dann Toxine bilden, die den Körper zusätzlich schädigen, und was weiß ich noch. Dann ist es ein Vabanquespiel, ob es noch was wird. Aber zu diesen Vertretern gehören diese Bakterien eigentlich nicht. Die sind zwar schon mit einiger Vorsicht zu genießen, aber so hochvirulent, wie in diesem Fall – das ist eigentlich ungewöhnlich.“
„Und das ist noch nett ausgedrückt“, setzte Kovacs nach. „Der Stamm ist gerade auf dem Weg nach Berlin zum Robert-Koch-Institut, um zu sehen, ob es sich hier um etwas ganz Schräges handelt. Aber wie dem auch sei: Ihrem Freund wird es im Endeffekt ziemlich egal sein, an welchem Exoten er nun stirbt. Tatsache ist, dass er eine 80-prozentige Chance hat, dass er diese
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